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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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man selbst anziehen durfte und was man sich anziehen lassen sollte, und so vieles dergleichen. Jedenfalls aber galt in diesem einzelnen Augenblick: man überzählt nicht selbst die Silberlöffel nicht wahr? Also, bitte, Mama.
    Die breite Dame in schwarz Atlas ging. Eigentlich verachtete sie ihren Leo ein wenig. Warum hatte er sich keinen Titel angeschafft, in welchem sie mit Raum hatte. Konsul und sie? Es war eine Schmach. Aber immerhin, sie ging.
    Leo ließ seine Hände los und fand sie erst wieder unter lauter Silberlöffeln. »25, 28, 29«, sagte er in bestem Deutsch als ob es Verse wären. Da hörte er einen Aufschrei. »Was ist denn?« schrie er rücksichtslos wie hinterm Ladentisch. »30, 32.« Als keine Antwort kam, sah er ein, daß er nur noch das dritte Dutzend aufzählen könne, und lief mit einer unreifen 36 im Munde durch den gelben Salon, durch das Spielzimmer, durch den grünen Salon. Vor der Glastür, welche in das Schlafzimmer seiner Mutter führte, war etwas Schwarzes halb zusammengesunken. Es war die Titellose. Sie stöhnte schmerzlich. Er war zunächst bemüht, sie in das Schloß zurückzurufen; plötzlich aber gab er es auf und starrte mit scheuen Augen in die Glastüre hinein. Dort glitt, wie im Kampf mit der Dämmerung, etwas Langes, Weißes tastend die Wände entlang, neigte sich, tauchte unter im Dunkel und wuchs wieder unbestimmt wie ein farbloses Riesenwindlicht zu den Fenstern hin. Nicht durch Vermittelung seines erstarrten Verstandes, sondern von seiner Angst erfuhr Leo, daß das irgend ein längst-und hochseliger Felderode sei offenbar, und langsam fügte sein Verstand an, daß diese unerhörte Tatsache gefährlich sei durch den Umstand, daß weder von der Decke noch von den Stühlen das Grafenwappen entfernt war: er konnte gar nicht wissen, daß das Schloß verkauft sei. Daraus ergaben sich Verwickelungen ohne Ende. Trotz aller Seltsamkeit vergaß der Konsul ein Weile seine Lage und berechnete sämtliche Möglichkeiten. Ein Teufelsspuk war sein letzter Eindruck. Eine Sekunde lang dachte er daran, in die Schloßkapelle zu eilen und aber ach, er war noch zu neu und unerfahren im Christentum, um so schwierigen Situationen gewachsen zu sein.
    Da gerade, als er seine arme Mutter wieder empfing, änderte sich drinnen die Szene. Man hörte etwas wie ein wildes Zauberwort, und hart darauf brannte die Kerze auf dem Nachtkästchen. Die Gestalt ließ sich auf dem Bette nieder und materialisierte sich offenbar heftig; denn die Gesten wurden immer menschlicher und begreiflicher. Leo fühlte sich jäh versucht, aufzulachen, und wurde witzig. Er sagte zu sich: »Auch so eine aristokratische Eigenschaft. Wenn unsereins stirbt, ist er tot, so einer tut, als wäre gar nichts geschehen noch fünfhundert Jahre später.« Und boshaft wurde er: »Natürlich, früher waren sie nur halb lebendig, diese Herren jetzt sind sie nur halb tot…«
    Er fand dieses Aperçu so trefflich, daß er es seiner Mutter eingeben wollte auf jeden Fall. Diese erwachte indessen rechtzeitig, um zu sehen, wie der Weiße mit großen Gesten ihre eigene Nachtwäsche aus den Kissen hervor ins Ungefähre warf, wie in ein Meer. Sie wollte wieder in die Bewußtlosigkeit zurück, aber ihre Moral begegnete ihr unterwegs und gab dies nicht zu. Da schrie die Titellose: »Ein ganz gemeiner Mensch! Friedrich, Johanna, August!«, und dann faßte sie ihren Sohn am Arm, so daß ihm seine Heiterkeit in die falsche Kehle sprang: »Du gehst hinein, Leo; nimm die Pistole und geh hinein.« Sie drängte ihn.
    Leo fühlte die Knie weich werden. »Gleich«, ächzte er trocken und preßte die Türe, welche nach innen aufging, mit beiden Händen nach der anderen Seite. Da hob sich drinnen eine Hand wie warnend aus den Kissen, wuchs, wuchs und fiel der Kerze auf den Kopf, die demütig starb.
    Im selben Augenblick erschien der greise Friedrich an der Schwelle des grünen Salons. Er trug einen schweren silbernen Armleuchter vor sich her und verharrte zunächst vollkommen abwartend, solange die Konsulmutter ihm entgegenfauchte: »Ein ganz gemeiner Mensch! Ein ganz gemeiner Mensch!« Leo dagegen zeigte Umsicht und Mut. Er drückte sich deutlicher aus: »Ein Einschleicher, Friedrich, ein Dieb vermutlich, verbirgt sich im Zimmer der gnädigen Frau. Gehen Sie, Friedrich! Schaffen Sie Ordnung, rufen Sie die Leute. Es geht nicht an, daß ich selbst…«
    Der alte Kammerdiener ging rasch in das dunkle Zimmer. Er trat dem Konsul gleichsam auf die letzten Worte. Die

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