Die Erzaehlungen
sich in den Lehnstuhl fallen läßt und wie die zarte Frau, die sich zu ihm niederbeugt, ihn ganz verdeckt. Und sie sagt nichts weiter; man hätte es auch nicht gehört, denn Harald hustet sehr laut.
Wie traurig muß es für die sein, die im Winter gesund waren, wenn der Frühling kommt. Wie können sie ihn verstehen, wenn sie nicht zugleich Genesende sind? denkt Harald, und er sieht immerfort den Himmeln zu, die, abwechselnd wolkig und klar, an den Fenstern vorüberjagen, hoch über dem Nachmittag des Vorfrühlings. Er schaut nicht mit den strahlenden Augen allein, er schaut mit seinem ganzen Gesichte, in welchem nichts Verheimlichtes ist. Nur unter dem Bart, der wild die Lippen überwuchert, steht ein kleines Lächeln und blüht, wartend, daß ein Wort es mit zu den Menschen nimmt. Aber Harald schweigt.
Sogar als Frau Malcorn eintritt, leise, wie man zu Kranken kommt, und fragt: »Schon allein? Marie ist schon fort?« nickt er nur, sagt aber dann unbestimmt: »Sieh mal.« Mit dem geübten Verständnis der Pflegerin wendet sich Frau Malcorn den Fenstern zu, bemerkt aber nichts. Und so erklärt Harald: »Die Wolken … Es ist ein wundersames Bild. Und ich habe es so lange nicht gesehen. Als Knabe manchmal und dann lange nicht mehr …« Und dann nach einer Weile beantwortet er auch die Frage der Mutter. »Marie müßte eigentlich nicht mehr kommen. Ich habe sie fortgeschickt. Ich wollte schlafen, hab ich ihr gesagt. Aber ich war bloß müde, müde sie zu sehen. Müde immer wieder diese alten Dinge zu hören. Ich meine, von denen da unten. Da war ich nun ein halbes Jahr nicht bei ihnen. Ein halbes Jahr! Und während dieser ganzen Zeit ist nichts geschehen, scheint es. Wenigstens was Marie erzählt …«
»Siehst du, sie können nichts anfangen ohne dich …«
»Du Gute. Sie können auch mit mir nichts anfangen. Und vor allem: ich kann nichts mit ihnen anfangen, wirklich.« Und er wendet sich wieder den Fenstern zu, als wäre jetzt nichts so wichtig wie dieser helle, bewegte Himmel. »Das hab ich früher alles nicht gesehen. Und es ist doch so viel! Ich weiß nicht, Mama, macht das das Kranksein, daß man so aufmerksam wird auf alles und so dankbar, fast weise … So unwillkürlich weise, wie man als Kind ist? Man kann garnicht aus der Rolle fallen.« Pause, dann leise: »Glaubst du, daß es zu spät ist?«
Frau Malcorn richtet die Kissen, die über die Lehne des Sessels gelegt sind.
»Zu spät, Harald, wozu?«
»Zu beginnen. Noch einmal gleich hinter der Kindheit zu beginnen. Als ob diese drei Jahre da unten nichts gewesen wären. Oder, als ob sie eine lange Krankheit gewesen wären, aus welcher ich jetzt langsam zurückkomme …«
Er fühlt einen Kuß auf seiner Stirne und fragt: »Nicht zu spät?«
Frau Malcorn schüttelt den Kopf; dann kniet sie neben Harald nieder, und er legt ihr seine feinen, ausgeruhten Hände leicht aufs Haar und spricht: »Schwer wird es mir nicht fallen, glaub ich. Ich bin viel näher bei allem, was in der Kinderzeit liegt, als bei dem nachher. Alles weiß ich. Wenn du mich doch prüfen wolltest. Bis ganz zurück. Bis damals, da du ein Kleid trugst, ganz aus Spitzen, wie aus lauter solchen Wolken gemacht, aus Frühlingswolken. Und als du oft weintest … O ich weiß noch. Und als du kleine, leise Lieder spieltest in der Dämmerung, kannst du sie noch?« Frau Malcorn senkt die Stirne tief, so daß Haralds Hände weitergleiten in ihrem Haar, von Stellen, die unter ihnen warm geworden sind, zu anderen, kühlen. Und wieder hört sie Haralds Stimme über sich. »… Freilich, das ist lang. Und doch, ich fühle genau, wie es war. Als ob ein Glänzen glitte durch die Dunkelstunde, ein Aufleuchten, ein letztes Lächeln der Dinge vor dem Einschlafen: so war dein Lied. Und einmal, als ich ganz leise zu dir trat (du hörtest mich garnicht kommen ), da nanntest du mich … du nanntest mich damals … Jerôme … Seltsam: Jerôme … trotzdem ich Harald bin … und … der Vater … hieß auch Harald … aber du sagtest damals Jerôme zu mir trotzdem … Und das paßte so gut zu dem, was du spieltest … das war wie das Lied selbst … Siehst du wohl, was ich alles noch weiß?« Pause. Und dann steht Frau Malcorn auf und zwingt sich zu sagen: »Willst du mir etwas zuliebe tun, Harald?«
»Alles.«
»Laß uns nicht nach Skal gehen, laß uns hier bleiben!«
Harald staunt über den flehentlichen Ton dieser Worte.
»Aber das sollte doch ohnehin nur auf deinen Wunsch geschehen?«
»Ja siehst
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