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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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du es ist ein großer alter Park beim Schloß und überhaupt … deshalb hab ich an den Onkel geschrieben, ob er uns nicht einladen möchte. Ich hoffte: dort würdest du dich rascher erholen, aber « Rasch fällt Harald ein: »Ich hätte dich wahrscheinlich um das gleiche gebeten, Mama. Heut oder morgen. Im Anfang schien es mir ja eine große Freude und Freiheit … Aber mir sind unsere Stuben hier doch lieber. Jetzt, weißt du, während der Krankheit, sind sie mir so lieb geworden. Und ich kenne sie eigentlich noch wenig. Ich war ja so selten zu Haus früher, damals … Natürlich: bleiben wir.«
    Hilflos und gequält fängt Frau Malcorn wieder an: »Und du fragst garnicht, weshalb ich diesen Plan …?«
    »Du wirst deine Gründe haben, Mütterchen … Und ich glaube beinahe, ich errate sie; ich kenne dich ja! Es widerstrebt dir, vom Onkel eine Gnade anzunehmen, du Stolze …«
    Aber gerade damit zwingt er Frau Malcorn zum Reden. Und blindlings, ganz außer sich vor Scham, wirft sie sich in die Worte: »Nein, Harald … ich kann nicht lügen … vor dir … ich muß es dir sagen … es ist nicht … nicht … aus Stolz, … aus … Furcht …«
    »Furcht?«
    »Ja. Vor der weißen Frau …«
    Harald versteht noch garnicht: »Furcht? Vor Frau Walpurga? Aber meine mutige kleine Mama und Furcht?«
    Frau Malcorn versucht zu lächeln. Doch am liebsten möchte sie dem Blicke ihres Sohnes entgehen. Sein Auge schaut so groß, und sie bleibt immer in seinem Kreis, seinem sanften Glanze erreichbar, wie sie auch unter den Dingen herumirrt. Endlich kauert sie sich vor den Ofen, als ob es dringend notwendig wäre, das Feuer zu erhalten. Und so, von dieser Zuflucht aus, knieend, das gesenkte Gesicht im heißen Schein der angefachten Glut, beginnt sie ein flüsterndes Gespräch.
    »Erinnerst du dich der Sage von Frau Walpurga?«
    »Ungefähr. Sie ist in verschiedenen Schlössern gesehen worden?«
    »Ja, am häufigsten in Skal.«
    »So? Immer drei Tage bevor jemand stirbt, nicht wahr?«
    »Ja. Es heißt so.«
    »Und nach der Chronik ist es ja auch fünf-oder sechsmal in Erfüllung gegangen. Wenn man aber bedenkt, daß Frau Walpurga um die Mitte des 16. Jahrhunderts blühte und sich seither nur fünf-oder sechsmal bemüht hat zu erscheinen, muß man annehmen, daß die meisten Malcorns ohne ihren Vorantritt gestorben sind es sei denn, sie lebten noch? …«
    »Und sonst weißt du nichts von ihr?«
    »Einmal hab ich das alles gewußt, als Knabe, als Kind … aber dann müßte ich’s ja gerade jetzt, da ich die Kindheit wie gestern empfinde, wieder wissen … Wart mal: Sie war die Gemahlin des … des … Grafen (oder waren sie damals noch Freiherren? …), nein, ich glaube … wir wollen später doch nachschlagen, ob es richtig ist … und, im Falle ich recht habe, bitt ich mir eine Belohnung aus ja?« Harald sucht in seinem Gedächtnis, und so fällt es ihm nicht auf, daß Frau Malcorn nicht scherzhaft erwidert auf die letzte Frage. Er richtet sich ein wenig im Stuhle auf und zitiert richtig und sicher die betreffende Stelle: »›Sigismund Ferdinand, erster österreichischer Graf von Malcorn, Herr auf Tschakathurn und Hallpach usw. Söhne: Ferdinand III., Apel, genannt der Lahme, Christoph. Christoph, nachmals Herr auf Sarnkirchen und Skal, vermählt mit Walpurga, Freiin von Indichar …‹ da haben wir’s! Siehst du, du wirst sehen, es stimmt. Willst du weiter hören? Ich glaube, jetzt weiß ich Enkel und Enkelsöhne bis ins 18. Jahrhundert herein …«
    »Nein, nein«, wehrt Frau Malcorn heiser.
    »Na, ich denke auch, das genügt. Ich begreife überhaupt nicht, warum wir uns so gründlich mit Frau Walpurga beschäftigen. Wenn sie schon mal keine Ruhe hat …«
    »Weißt du, weshalb?«
    »Weshalb sie keine Ruhe hat? Offenbar wie alle ›weißen Frauen‹ der Welt: treulos, sündig, vom erzürnten Gemahl erstochen …«
    »Treulos, sündig …«, wiederholt Frau Malcorn mit so unsicherer Stimme, daß Harald sich erstaunt umblickt. Sie ist jetzt wieder ganz nahe, hinter seinem Stuhl, so nahe, daß die Flügel ihrer Worte ihn streifen, als sie fragt: »Erinnerst du dich an deinen Vater, Harald?«
    »Kaum. Er hatte einen dichten weißen Bart. Er war alt.«
    Frau Malcorn möchte ihre Hand in Haralds Haar legen, aber sie hebt sie nur bis auf seine Schulter; denn ihre feine Hand ist schwer. Und in diesem Augenblick sagt Harald: »Seltsam wilde Hände hatte er …«
    »Harald!« Es ist wie ein Schrei, aber Harald kann ihr Gesicht nicht

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