Die Erzaehlungen
sehen.
»Könntest du dir denken, Harald …?« hört er hinter sich, und weiter, in bangen, merkwürdig leeren Pausen »daß … dein … Vater … mich …« Da wendet Harald doch den Kopf. Frau Malcorn schaut über ihn fort in die beginnende Dämmerung und schreit fast: »… daß er getan hätte wie Graf Christoph? …«
Erst begreift Harald nicht. Dann langt er rasch nach ihrer Hand die eiskalt ist, und zieht sie sanft zu sich. Und da kniet sie auf einmal neben ihm und drückt ihr Weinen in seinen Schooß und hört über sich Haralds Stimme gehen, leise, ernst, beinahe feierlich: »Er war ein Greis. Ich hab ihn nicht geliebt.« Und da küßt sie seine erschrockenen, sich sanft wehrenden Hände. Harald aber ist schon bemüht, sie emporzuheben, und lächelt: »Siehst du, dazu bin ich noch zu schwach. Das geht noch nicht. Heben kann ich dich noch nicht.«
Dann, als sie leicht aufgestanden ist, lehnt er sich weit zurück, wie zu glücklichem Schlaf. Sein Gesicht ist unbewegt. Nur unter dem Kinn, auf dem gespannten, abgemagerten Halse fließt eine kleine Ader in springenden Wellen dem stillen Herzen zu.
Nach einer Weile holt er tief Atem, und Frau Malcorn fragt: »Ist dir gut?« Harald öffnet die Augen nicht: »Ja. Heute wird es am Ende gar nicht kommen das Abendfieber …«
»Aber ruh nur jetzt …«
»Nicht fortgehen «
»Nein, ich bin immer da.«
Und in dem Schweigen, das dann folgt, vollzieht sich die Dämmerung. Die Dinge treten lautlos aus dem Glanz zurück, wie aus einer Kirche, deren Tore geschlossen werden. Sie kauern sich längs der Wände, wärmen sich eines am andern, und es geht ein Schläfern von ihnen aus, welches die Uhr am Pfeiler mühsam überwindet. Im letzten Augenblick, da die Stunde schon unerkannt vorüber will, ruft sie sie an, hastig und hell.
Das macht Harald wach.
»… Bist du da?«
»Ja, Liebling. Brauchst du etwas?«
»Ich will nicht schlafen.«
»Doch, Harald, schlaf! Das giebt Kraft.«
»Mir ist zu gut zum Schlafen. Mir ist so gut. Wenn ich schlafe, vergesse ich es. Und ich möchte gern wissen, daß mir gut ist. Wir wollen reden.« Jetzt erst rührt sich Harald. Die Augen bleiben im Schlaf, aber die Linke streckt er so nach der Seite hin und bittet: »Hand!« Und dann, als sein Wunsch erfüllt ist: »Das ist deine Hand … Wenn ich erblinden müßte, ich würde dich doch erkennen an dieser Hand … Ich muß also keine Angst haben, nicht einmal vor dem Blindwerden … nicht einmal wenn … doch … dann muß ich sie ja loslassen …«
Frau Malcorn erschrickt, auch deshalb, weil sie sein ›dann‹ gleich versteht. Unwillkürlich zieht sie ihre Hand zurück. »O« macht Harald, als ob er etwas Gläsernes fallen gelassen hätte, und auf seinem Gesichte ist eine ängstliche Spannung, es aufklirren zu hören an dem harten Boden.
Aber schnell beschwichtigt Frau Malcorn seine Angst. »Ich bin ja da, Harald.« »Ja.« Und er läßt die Augen schlafen und spricht leise, wie um sie nicht aufzuwecken. »Es ist doch gut, daß ich krank geworden bin. Denk nur! Wenn ich nicht krank geworden wäre, das wäre so fort gegangen, da unten, immer und immer, bis … Aber jetzt … jetzt darf ich mein Leben wieder aufbauen ganz von Anfang … Kindheit? Hm. Mit der war ich zufrieden. War da jemand, der mir sie so schön gemacht hat, so märchenhaft schön! Du wirst … erraten … wer … Nicht gerade froh war sie, was man so froh nennt: voll von Gespielen und Festen. Ich war immer allein, oder doch allein mit dir. Aber sie war so … tief. Ich kann ihren Anfang nicht erschauen. Es könnten Jahrtausende gewesen sein Jahrtau… Und doch, dann ist es wieder wie ein einziger Tag, der noch immer nicht zu Ende ist und von dem ich träume, daß er nicht enden soll. Kannst du dir das denken?«
Er erwartet keine andere Antwort, als die Stille. Und nachdem er dieser eine Pause lang zugehört hat, fährt er fort: »Es muß schwer sein, sich das zu denken. Ich hätte es selbst kaum gekonnt vorher; aber jetzt scheint es mir ganz natürlich. Die Kindheit ist ein Land, ganz unabhängig von allem. Das einzige Land, in dem es Könige giebt. Warum in die Verbannung gehen? Warum nicht älter und reifer werden in diesem Lande? … Wozu sich gewöhnen an das, was andere glauben? Hat das etwa mehr Wahrheit, als was man glaubt im ersten starken Kindervertrauen? Ich kann mich noch erinnern … da hatte jedes Ding einen besonderen Sinn, und es gab unzählbar viele Dinge. Und keines war mehr im Werte als ein
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