Die Erzaehlungen
Jahre man möcht’ es nicht glauben. Nun ja, das war eben die Arbeit. Die macht die Zeit so unkenntlich. Und gearbeitet hat er: seine Chefs werden staunen. Er hat nur kurz von seinen Erfolgen berichtet, die größten Überraschungen bringt er selbst. Das Modell zu der neuen Farbenpresse zum Beispiel. Wie seltsam! Eigentlich hat er den Erfinder entdeckt. Ein armer Teufel, der dasaß mit seiner Erfindung und nicht aus und ein wußte. Jetzt wird sie ausgeführt, patentiert, man wird sich darum reißen. Und der sie erfunden hat, ein gewisser Sellier ja, wo war das doch? In Paris, richtig! In Paris das klingt jetzt schon wieder ganz fremd für Erhard. Seine Frau hat ihm neulich geschrieben: »Du hast jetzt die Welt gesehen …« Die Welt? Eigentlich hatte er in allen Städten nur das Seine gesucht; wie einer, der in ein dunkles Zimmer geht, um einen bestimmten Gegenstand zu holen. Von der Welt wußte er nicht eben viel. Aber das war ja auch gleichgültig zunächst. Später konnte man ja einmal eine Reise machen, gemeinsam, eine Vergnügungsreise bis das Kind größer sein wird. Ja, das Kind! Wie es wohl aussehen mag was für ein Gesicht? Er hat es ja nur gesehen, als es eben zur Welt kam. Und so kleine Kinder haben doch eigentlich kein Gesicht. Ob es ihm ähnlich sieht oder ihr? Und dann denkt er an seine Frau. Eine unendliche Wärme durchströmt ihn, nichts Überschwengliches, einfach Wärme. Sie war etwas blaß damals, aber das war ja nach dem Kind. Und dann würde man jetzt ja auch besser leben. Man konnte zweimal in der Woche Braten haben vielleicht auch das Klavier anschaffen nicht gleich aber mit der Zeit, etwa zu Weihnachten .
Da steht der Zug. Leute laufen hin und her. Rufe: Aussteigen! Aussteigen! Die Türen schlagen auf, kalte Luft dringt ins Coupé. Die Gepäckträger erscheinen in ihren lichten Leinwandjacken. Er zögert noch. Da hört er jemanden sagen: »So, nu sitzen wir feste!« Er erschrickt. »Verzeihen Sie?« bittet er. »Nun«, antwortet jemand ärgerlich, »der Anschluß ist davon, jetzt können wir sehen, wie wir weiterkommen.« Er steht schon draußen. Er sucht den Stationsvorstand; durch eine Menge Leute stößt er sich rücksichtslos durch zu ihm. »Ich muß weiterfahren, gleich!« ruft er außer sich. »Aber, meine Herren«, sagt der Vorstand gleichgültig zu ihm und den anderen, »ich kann es nicht ändern. Ihr Zug hat zwanzig Minuten Verspätung gehabt, der nach Danzig mußte abgehen. Ich kann mir nicht die Geleise verstellen.« »Aber es muß doch eine Möglichkeit geben .« Der Vorstand wendet sich an Erhard: »Beruhigen Sie sich, es ist zwei, um sieben geht der Kurierzug. Also in fünf Stunden. Wohin fahren Sie?« Der Beamte hat sich schon zu jemand anderem gewendet. Erhard steht mit seiner Tasche auf dem Bahnsteig, der sich langsam leert. Plötzlich fällt ihm ein: Aber wo sind wir denn eigentlich? Er liest, groß, gerade über sich: Miltau. Miltau! Das ist ja zwei Stunden mit der Bahn von Danzig, also mit Wagen etwa fünf. Er ist entschlossen, einen Wagen zu nehmen. Er fragt einen Bahndiener. Der, verdrossen: »Ja, da müssen Sie schon in die Stadt gehen, hier giebts nichts.« »Ist die Stadt weit?« »Nein.« Erhard macht ein paar Schritte, aber dann kommt ihm das lächerlich vor. Was dieser Wagen kosten wird und dann so anzukommen … und wozu das alles? Sind denn fünf Stunden wirklich ein solcher Gegenstand? Er lächelt. Ich darf mich nicht aufregen sagt er sich: es ist ja eine Kleinigkeit; ich bin ja sozusagen schon da im Vorzimmer .
So tritt er in die Restauration. Er bestellt einen Kognak. Es friert ihn. Dann sitzt er da wie einer, der etwas tun wollte und vergessen hat was. Endlich fällt es ihm ein: Denken, natürlich, wie früher. Und er versucht: Seine Frau, sein Bub fast zweieinhalb Jahre. Mit zweieinhalb Jahren, ob da die Kinder schon sprechen? Aber nein: es geht mit dem Denken nicht. Es ist anders als im Zug, wo sich alles bewegte. Hier steht alles in dieser langweiligen Restauration, steht und verstaubt. Und die Gedanken stehen auch. Aber er hat doch oft auf solchen Bahnhöfen warten müssen! Solchen? Oh, noch auf ganz anderen! Und was pflegte er da zu tun? Nun, er hielt es nie lange aus; meistens ging er sich die Stadt besehen. Das ist ein Einfall. Er trinkt noch einen Kognak und geht.
Erst eine Straße voll Kohlenkies, schwarz, schmutzig. Einen alten Lattenzaun entlang, immerfort geradeaus. Dann eine Brücke über irgend etwas Häßliches, einen Graben mit Abfällen.
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