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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Er erkennt einen alten rostigen Eimer, der sich halb voll Schlamm getrunken hat, da unten. Und plötzlich eine Fabrik. Schlote, hohe Wände aus Blech. Wie eine Riesensardinenbüchse etwas Unsinniges! Und endlich etwas wie eine Stadt; ein Haus rechts, eine große Pfütze ein Haus links … und dann eine Gasse. Ein Kramladen mit Pantoffeln, Zahnbürsten und Zwiebeln. Eine Weile steht er davor. Dann geht er weiter bis an den Platz. Er bemerkt ein neues Eckhaus. Zu ebener Erde eine große Spiegelscheibe mit Blumen dahinter. Darauf steht: »Café und Konditorei.« Vielleicht könnte ich einen Kaffee trinken, denkt Erhard und geht gerade auf den Eingang zu. Auch diese Tür hat Spiegelglas und die Aufschrift: Entreé nach großstädtischem Geschmack. Aber Erhard geht vorbei. Es steht ja nicht dafür sagt er sich , jetzt noch irgendwas zu essen; irgend einen elenden Kaffee! Ich bin ja doch gewissermaßen schon zu Hause. Es ist nur eine Zwischenstation, etwas vollkommen Belangloses. Und immer gradaus. Da kommt ihm eine Stimme entgegen, breit, bauschig, wie jene rollenden, wachsenden Lichtsterne, die man manchmal in gewissen Varietétheatern sieht: erst ein Punkt, und dann quillt es herein in den Saal, häßliches, widerwärtiges, dickes Licht … Die Stimme also: »Nein ich weiß es bestimmt. Und ich werde ihr schon auf die Spur kommen! Aber wenn ich ihn finde ich erschlag ihn …« Erhard sah auf. Ein großer schwerer Mann geht mit einem kleinen, spitzigen vorüber, der neugierig zuhört. Der Große hat ein rotes, fürchterliches Gesicht, und sein Mund hat noch die Form des Wortes: erschlag . Was für ein Mann! denkt Erhard. Wahrhaftig, man könnte sich fürchten! Dann geht er über den Weg. Das Pflaster ist erbärmlich. Überhaupt dieser Platz, von einer so trostlosen Leere! Die Häuser scheinen ihm zu weit geworden zu sein und hängen so an ihm. Und da drüben … Nein, wie merkwürdig: Unter all diesen Häuserfronten, die dumm und stumpf sind wie Gesichter von schwerhörigen, skrofulösen Kindern, ein anderes Haus. Mit einer im Empiregeschmack verzierten Fassade und zwei Vasen auf dem Dach, rechts und links zu Seiten des geschweiften Giebels.
    Erhard tritt näher. Das Haus wird deshalb nicht größer; es bleibt etwas lächerlich Kleines, trotz seiner aufgemalten Halbsäulen und den verwaschenen sepiabraunen Girlanden. Es hat ein Fenster im Giebel, zwei im ersten Stock und ein kleines ovales neben der Eingangstür, zu welcher drei Stufen hinaufführen. Aber Fenster und Tür scheinen nicht durchzugehen, als ob dahinter gar kein wirkliches Haus wäre, sondern … Und auf einmal denkt Erhard: Wo hab ich schon einmal dieses Haus …? Nun ja, so ist es immer, unversehens denkt man: wo hab ich doch schon? … Erhard kommt noch näher. Plötzlich bemerkt er, daß er geläutet hat. Was für eine Dummheit! Und er will zurück; aber schon knirscht es im Schloß, und er schämt sich, so einfach davonzulaufen. »Sie wünschen?« Es ist eine Frau jung offenbar, mit unsicheren Augen.
    »Ich«, zögert Erhard, »ach, verzeihen Sie, ich «
    »Bitte, treten Sie ein, es ist kalt«, sagt die Frau, und sie scheint nicht übermäßig erstaunt.
    Es ist nicht kalt draußen, es ist am Anfang des Frühjahrs, aber trotzdem findet Erhard ebenfalls, es sei kalt, und schiebt sich hinein. Der Flur ist lau und dunstig. Erhard streift beim Eintreten das Tuch, in welchem die Frau eingehüllt ist, und es fühlt sich eigentümlich weich an. Sie steht jetzt dicht neben ihm. »Hier hinauf « sagt sie und geht eine schmale, knarrende Treppe voran. Eine Stube. Dämmerung von zerflossenem Rot; wahrscheinlich sind die Fenstervorhänge von rotem Tüll. Oder brennt irgendwo eine verhüllte Lampe?
    »Setzen Sie sich«, sagt die Frau. Sie hat das weiche Tuch abgeworfen und glättet ein Fell, das über einem Sofa liegt. Ihre Arme sind nackt, ihr Kleid ist lose, allen Bewegungen willig. Und die Stimme ist wie das Kleid. Erhard schaut ihr zu. Plötzlich besinnt er sich. »Verzeihen Sie « sagt er in seiner verlegen höflichen Art »ich dringe hier ein …« Sie lacht und setzt sich tief in das Fell, das sich bauscht. »Ich « zögert Erhard, immer unsicherer, »ich sehe das Haus es ist sehr eigentümlich, dieses Haus!«
    Sie sitzt und lacht, Falten laufen ihren Beinen entlang und verschwinden wieder, macht das das Licht? »Das Haus « versucht Erhard »es ist wohl ein altes Haus?« Sie lacht, während sie sagt: »Ja, ein altes Haus. Aber warum sitzen Sie nicht, hier «

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