Im Land des Roten Ahorns
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H AMBURG , J ANUAR 1875
Dunkelheit herrschte draußen, vor den Fenstern des Hauses Nr. 7 der Mönckebergstraße, während in der Eingangshalle Gaslaternen für einen Hauch Behaglichkeit sorgten. Das monotone Ticken der Standuhr hallte von den cremefarben gestrichenen Wänden wider, begleitet vom Absatzgeklapper einer jungen Frau, die unruhig auf und ab ging.
Wie lange dauert es noch?, fragte sich Jaqueline Halstenbek besorgt, während sie die eiskalten Hände knetete. Eine Stunde ist Dr. Sauerkamp nun schon oben. Steht es wirklich so schlecht um Vater?
Ein eisiger Luftzug, der unter der Tür hindurchwehte, ließ sie erschaudern. Fröstelnd zog sie das Wolltuch, das sie über ihrem grün gemusterten Kleid trug, enger um die Schultern. Dann blickte sie erwartungsvoll zur ersten Etage hinauf, wo ihr Großvater von einem goldgerahmten Bildnis an der getäfelten Wand gütig zu ihr herablächelte - und ihr Vater vielleicht mit dem Tode rang.
Dr. Ägidius Sauerkamp war ein alter Freund der Familie, ein gemütlicher Mann mit weißem Backenbart und dichtem Haarschopf, der eine Vorliebe für blaue Gehröcke und gemusterte Halstücher hatte. Früher war er ein gern gesehener Gast im Haus der Halstenbeks gewesen, der so manches Fest mit seinen Anekdoten bereichert hatte. Doch durch den Tod von Jaquelines Mutter hatte sich alles verändert.
Nun war Sauerkamp wegen Jaquelines Vater hier. Obwohl der Mediziner sein Handwerk verstand, konnte er nur noch die Schmerzen seines Patienten lindern und dessen Leben vielleicht um wenige Tage oder Wochen verlängern. Aussicht auf Heilung gab es für Anton Halstenbek nicht.
Jaquelines Magen krampfte sich zusammen, als sie an seinen Zusammenbruch beim Abendessen zurückdachte. Ihr Diener, Christoph Hansen, hatte den Kranken ins Schlafzimmer getragen und war dann sofort zu Sauerkamp gelaufen. Sie hatte neben dem Bett ihres Vaters gewacht und gebetet, dass dieser Abend nicht sein letzter sein möge.
Wird Dr. Sauerkamps Behandlung noch etwas bringen?, fragte sie sich nun.
Da der Doktor noch immer auf sich warten ließ, trat Jaqueline an eines der Fenster. Die Straßenlaterne vor ihrem Haus war ausgefallen. Schneekristalle wirbelten gegen die Scheiben, in denen sich Jaquelines Gestalt verschwommen spiegelte.
Was hab ich mich in den vergangenen Wochen verändert!, stellte sie fest und seufzte. Ich sehe nicht wie zweiundzwanzig aus, sondern glatt doppelt so alt. Einige rote Strähnen hatten sich aus ihrem schlecht sitzenden Chignon gelöst und umrahmten ihr bleiches Gesicht. Die Wangen waren eingefallen, und die grünen Augen wirkten glanzlos. Und ihre Taille hatte an Umfang verloren, wie die Falten ihres Kleides verrieten. Wenn das so weitergeht, werde ich in ein paar Wochen nur noch Haut und Knochen sein.
Das Knarren der Treppe holte Jaqueline aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und erblickte den Arzt, der hinter ihr wartete und nervös mit seiner Taschenuhr spielte.
»Wie steht es um meinen Vater, Herr Doktor?« Jaqueline wusste nicht, wohin mit den Händen, und strich fahrig über ihr Kleid. Der Taft kam ihr mit einem Mal rau wie Sackleinen vor.
»Fräulein Halstenbek, Sie sollten besser zu ihm gehen.« Die Miene des Arztes war ernst, und seine Stimme zitterte.
Jaqueline schnappte nach Luft und eilte die Treppe hinauf. Ihr Herzschlag trommelte ein wildes Stakkato, während sich ihre Kehle zuschnürte. Ein panisches Schluchzen wütete in ihrer Brust und trieb ihr Tränen in die Augen.
Du musst stark sein!, ermahnte sie sich. Mute deinem Vater in seinen letzten Minuten nicht zu, dass du heulst wie ein kleines Kind!
Dumpf hallten ihre Schritte über den rot gemusterten Teppich, der an einigen Stellen bereits zerschlissen war. Als sie in das elterliche Schlafzimmer stürmte, stieg ihr ein saurer Schweißgeruch entgegen, gemischt mit den Ausdünstungen der Medikamente, die ihrem Vater in den letzten Monaten das Leben erleichtert hatten. Mit den Tränen kämpfend, trat Jaqueline zögerlich an das wuchtige Ehebett aus Eichenholz, in dem die ausgemergelte Gestalt ihres Vaters beinahe versank. Der Anblick schmerzte sie.
Das Krebsgeschwür in seiner Lunge hatte den lebensfrohen Mann um Jahrzehnte altern lassen. Sein einstmals rundes, stets rosiges Gesicht war eingefallen und aschfahl. Nur um Nase und Kinn herum war die Haut schneeweiß. Auf seiner Stirn glitzerte Schweiß.
Die Todeszeichen!, dachte Jaqueline erschrocken. Genau wie damals bei Mutter.
Als Anton Halstenbek spürte,
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