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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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wären. Man war es gewohnt, die beiden als Eines zu betrachten, was für die gesprächigen Damen hinter den Kaffeetassen kein geringes Opfer war, da durch dieses Sesostristum Klothildchens und Rosinchens eigentlich eine Person weniger zu bekritteln war. Aber einmal war es wirklich schwer, die Pläne unter dem weißen Scheitel gesondert zu betrachten von den Gedanken, die der schwarze Scheitel beschützte, und man fand einen unausgesprochenen Trost darin, daß aus diesem Wechselverhältnis vielleicht mehr am Kaffeetisch ›Verwendbares‹ entstünde, als wenn jede von den alten Jungfern so ganz allein wie eine vergessene Kerze in sich zusammengebrannt wäre.
    Die Leute im Hause wußten, daß es hinter den roten Geranien auch Gewitter gäbe und daß bei diesen Anlässen Fräulein Rosine den Blitz und Fräulein Klothilde den Donner mache, wie das so zu jedem echten gesunden Gewitter gehörte. Sie wußten überdies, daß die Zahl dieser Gewitter viel größer war, als der galligste Wetterfrosch sonst zu prophezeien wagte, und schüttelten nun seit fast dreißig Jahren die Köpfe, so, daß mancher weiß weiterschüttelte, der noch ganz blond angefangen hatte. Sie wunderten sich darüber, was eigentlich die beiden Damen, die weder verwandt, noch besonders an einander gebunden waren, bewogen hatte, aus der Residenz, wo sie gewiß nicht zusammenwohnten, gemeinschaftlich nach Karbach zu ziehen und in dem fast dreißigjährigen Krieg den Beweis zu erbringen, daß sie sich mit Recht Freundinnen nennen durften.
    Das Rätsel war schwer zu lösen. Denn hinter die Geranien durften nur ganz wenige lugen, und was die wenigen dahinter sahen, war das Bild einer arkadischen Eintracht. Außerhalb des Hauses sah man das Zweigespann bloß auf dem Markt und in der Kirche. Und während die schwarze Klothilde sich trefflich auf fette Hühner verstand, hatte Rosinchen viel Mitgefühl für fette Messen und tauschte bei jedem »Dominus vobiscum« einen Blick frommen Verstehens mit dem von heiliger Hast triefenden Pfarrer. Und wie bei Rosinchen das Fingergefühl für die Rosenkranzkugeln zur fast überfeinerten Vollendung gediehen war, so konnte Klothilde die Reife der Erbsen am bloßen durch die Fingerrollenlassen erkennen.
    So muß der oberflächliche Leser zu der Meinung kommen, er sei doch viel klüger als alle Karbacher zusammen; denn das Rätsel, an dem die guten und unbescholtenen Bürger nun schon so lange ihre Zangen anlegen, glaubt er just mühelos mit dem kleinen Finger geknackt zu haben. Nämlich: Es herrscht eine so wohltätige Ergänzung zwischen den geistigen und materiellen, den religiös-theoretischen und nützlich-praktischen Talenten der beiden Damen, daß ihr Zusammenleben nicht nur nicht erstaunlich, sondern sogar naturnotwendig war und jeder Entfernung zum Trotz hätte geschehen müssen, so daß Rosinchen aus Grönland mit Klothildchen aus irgend einem tropischen ultima Thule zusammenkommen mußte; ob dies dann auf jeden Fall Karbach zum Schauplatz haben mußte, kann selbst der gar kluge Leser nicht entscheiden.
    Wenn aber einer von den Wenigen den Leser hinter den roten Geranien einführen könnte, würde zwar auch er den Eindruck hellster Eintracht aus dem alten Urväterhausrat mitnehmen, aber sich gestehen, daß da doch noch ein Rest sei, etwas Unaufgelöstes, das trotz des fleißigen Staubtuchs Klothildens wie ein Schleier über den Mahagonischränken und dem Nußbaumtisch dämmert. Und dieser Schleier eben ist es, an dem ganz Karbach zieht wie an einem Sprungtuch, wartend, welches Gerücht aus der brennenden Neugierde in das Linnen springen mag.
    Es springen viele.
    Aber der Schleier ist unzerreißbar.
    Und das ist es. Was? Eben das, warum die Karbacher nicht mehr Rosine ohne Klothilde sagen können und umgekehrt.
    Ein Geheimnis.
    Und wo nistet dieses schwarze Insekt, dieser ewig pochende Wurm, unter den schwarzen oder unter den weißen Haaren? Bei Rosinchen war es nicht lang geblieben. Wenn sie irgendwem mit der feierlichsten Miene »Schweigen übers Grab« versprach (und sie tat das oft, denn es hatte etwas Romantisches und erinnerte sie an die Bücher mit den bunten Umschlägen, die sie als Mädchen heimlich gelesen hatte) wenn sie also dieses betonte, romantische Schweigen versprach, so konnte man sicher sein, daß sie die Tatsache bloß um eine halbe Stunde früher erzählte, als sie es ohne die große Festlichkeit getan hätte.
    Klothilde und Rosine waren als Kinder befreundet gewesen. In den jungen Mädchenjahren

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