Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
Vom Netzwerk:
hatte sie das Pensionsleben von einander getrennt, andere Zufälle hatten diese Trennung so lange ausgedehnt, bis sie sich endlich in jenen ersten Stadien des altjüngferlichen Pessimismus in der Residenz wiederfanden. Sie fanden sich wie zwei, die auf einer einsamen Heidestation beide den Anschluß versäumt haben und denen nun die Pflicht obliegt, sich gegenseitig durch die Langeweile des Wartens durchzurudern. Es kommt auch vor, daß zwei solche Menschen warten und warten und endlich, weil kein Zug mehr kommen will, von dem vergessenen Bahnhof den Weg ins nächste Dorf finden und dort wohnen bleiben.
    Und in einem ganz besonderen Fall nennt man das Dorf Karbach.
    Sie freuten sich ursprünglich sehr des Wiedersehens, aber der Gedanke eines Beisammenbleibens war ihnen ferner als der Mars. Rosinchen wußte vor lauter ›Geheimnissen‹ gar nicht, was sie zuerst erzählen sollte, und war nicht wenig stolz, daß in ihren Erlebnissen ein ›Er‹ vorkommen durfte, dunkel und mystisch, immer namenlos, wie der Fliegende Holländer, nicht gerade als Hauptperson, aber doch als wichtiges Versatzstück; und daß sie ihn da und dort anbrachte, zeugte für ihren dekorativen Sinn. Freilich machte sie’s so, wie die Spießbürgerfamilie, die einen einzigen silbernen Aufsatz besitzt, den sie einem eventuellen Gast aus einer Stube in die andere nachträgt, um so die Vorstellung eines märchenhaften Reichtums zu erwecken. Der Aufsatz ist immer überall. Und einmal ist Zucker drin, einmal Blumen, einmal Früchte, und im äußersten Fall paßt er auch für Visitenkarten.
    Klothilde hörte mit vielem Verständnis und mit einem seltenen Reichtum an Geduld die Geheimnisse Rosinchens an und versäumte endlich auch nicht, das große Martyrtum zu bewundern, das jene so heldenhaft ertrug, und zu würdigen, daß trotz der Treulosigkeit des anderen Geschlechts nicht nur Verachtung gegen dessen Übeltaten in ihrer Brust wohnte. Rosinchen konnte nämlich immer noch, wenn sie von den ›Männern‹ sprach, einen Rest von mädchenhafter Scheu in ihre Stimme legen, und sie setzte dann wohl auch die Backfischaugen auf, die ihr indessen wie eine zu schwach gewordene Brille standen und ihr ziemlich wehe zu tun schienen. Die große Gloriole des unverdienten Leidens machte alle diese Uneinigkeiten vergessen; denn Rosine war in tiefster Seele überzeugt, daß ihr ganzes Unglück im Namen liege. Es giebt Menschen, denen die Eltern in der Wiege einen Namen geben, der schon wie aus dem Konversationslexikon klingt, diese Menschen müssen berühmt werden auf jeden Fall. Wenn sie als Kinder den Hals brechen, werden sie’s eben deswegen. Und ihre unseligen, verblendeten Eltern hatten ihr an dem Unglückstage einen Namen gegeben, mit dem sie alte Jungfer hatte werden müssen, und hätte sie die Schönheit einer indischen Königin mit der Grazie der Otéro vereinen dürfen. Als Hauptperson dieser gräßlichen Schicksalstragödie fühlte sie sich natürlich ebenso wichtig wie bedauernswert. Trotzdem blieb ihr Zeit, die Teilnahme zu beobachten, welche Klothilde für sie hegte. Und wenn zuerst einzig die Freude an deren Herzlichkeit sie bezwang, kam schon in jenen ersten Tagen des Wiedersehens der schlaue, schleichende Verdacht hinzu, daß so tiefes Mitempfinden nur bezeugen könne, wer selbst Ähnliches erlebt und erlitten hatte.
    So ein Verdacht ist wie die fliegende Gicht. Einmal zuckts da, einmal dort. Man glaubts endlich überwunden, und schon beginnts wieder an einer anderen Stelle. Rosinchen konnte nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte keine Verdauung mehr und vergaß manchen Abend die Locken einzudrehen. Sie erwog alle Möglichkeiten, und das Ende war immer: daß Klothilde gewiß weit hinter ihr stünde in allem. Aber es wäre immerhin möglich gewesen, daß sie ein Geheimnis erlebte, bei dem einen großen Vorzug, den sie unleugbar besaß: sie hieß nicht Rosine.
    Und als Tage um Tage ins Land gingen und Klothilde immer mehr davon sprach, nach Karbach zu ziehen, überfiel Rosine eine unbeschreibliche Angst, daß das große Geheimnis ihr nun ewig verschlossen bleiben würde. Denn daß ein solches bestünde, wußte sie nun. Sie wußte, daß Klothilde in ihrem Schrank eine wohlversperrte Kassette bewahre, die sie die ›Wertheimer‹ nannte. Sie lachte bitter. Die ›Wertheimer‹. So heuchlerisch, damit man glaubt, da seien Wertpapiere drin. Freilich Briefe werdens sein oder gar ein Bild sein Bild.
    Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie wurde immer

Weitere Kostenlose Bücher