Die Erzaehlungen
den fremden Schultern lag, nicht das Joch der Knechtschaft. Und doch ließ es ihm nicht Ruhe. Er fühlte immer noch Kräfte in sich und fragte bei jedem Tage an, ob sein Volk ihrer bedürfe. Er wurde immer ratloser und unzufriedener, hielt es weder im Lehrsaal noch in der Wohnstube aus, wo Luisa saß und ihn mit großen, fragenden Augen erwartete. So machte er weite Spaziergänge.
Einmal im Frühling war er den Podskal entlang gegangen, tief in Sinnen, und als er aufblickte, ragte auf teilweise abgegrabenem Terrain ein graues, einförmiges Gebäude vor ihm auf, dessen Fenster ihm leer, wie ausgebrannt, entgegenstarrten. Wanka hielt es für eine einstige Kaserne, welche nun der Demolierung preisgegeben war, und trat, da der Platz nicht weiter abgeschlossen schien, durch eines der gähnenden Tore ein. Die Höfe waren mit Türrahmen und Türen, Brettern und allerlei altem Gerümpel angefüllt, und diese Dinge sahen ganz unglaublich traurig aus in dem glanzlosen, langsam verlöschenden Licht des späten Nachmittags. Der Student wandte sich ab und, von irgend einem Gefühl bestimmt, stieg er die ausgetretenen Holztreppen hinauf und ging weite weiße Gänge entlang und durch viele geweißte Räume hin, deren Decken niedrig, deren Dielen zum Teil aufgerissen waren. Und dann schritt er noch eine Treppe hinan und stand wieder in einem Gang, dessen Schlußwand schon halb eingerissen war, so daß der Wind breit hereinkonnte, aus dem grauen Tag. Er riß Strohhalme von den Sparren der Decke los und trieb sie, wie Pfeile, dem Fremden entgegen. Wanka trat gleich in eine der nächsten Türen ein und fand sich in einer engen, kaum drei Schritte breiten und nicht viel längeren Zelle, die ganz gleichmäßig erfüllt war mit dem spärlichen Licht, das durch eine vergitterte Öffnung, nahe der Decke, hereinfloß. Die weißgrauen Wände waren mit vielen Ritzen wie mit einem seltsamen, wirren Muster bedeckt, und erst nach einem Augenblick erkannte der Student, daß dieses Muster sich in Worte und in Bilder löste; Gebetsworte und Flüche, Namen und Orte las er, und alles hineingeritzt in wilde, grinsende Fratzen, merkwürdig verschmolzen mit den Linien ihrer Nasen und Augen, mehr wie beredte Falten und Runzeln, als wie Schriftzüge. Und ein Gesicht wuchs hinter dem anderen hervor, bleich und bebend, wie ein Haufe Volkes drängte ihm die immer mehr erwachende Wand entgegen, allen voran ein drohender, zorniger Mann mit hohlen Augen. Und quer über seine Stirne stand: »Jesus Maria.«
Da hörte Wanka, wie jemand seinen Namen sagte, und in unbeschreiblichem Grauen wandte er sich, als ob er flüchten wollte, und stieß heftig auf Rezek, den blassen Studenten, der mit eigentümlichem und eingeweihtem Lächeln sagte: »Das waren auch Künstler, diese hier. Nicht?«
Wanka erkannte den Studenten und sah ihn verständnislos an.
»Nun ich meine, jeder in seiner Art«, lächelte der noch. Dann fügte er ernst hinzu: »Glauben Sie mir, daß mir diese Bilder hier näher gehen, als das was unsre Maler malen und unsre Dichter zusammenreimen. Wissen sie, was das hier ist? Volkslieder. Nicht vor tausend Jahren entstanden und nicht unverständlich nach zehntausend Jahren. Gedichte in einer ewigen Sprache. Man sollte diese Wände ebenso sorgsam ausnehmen, wie die Hieroglyphenmauern in den Pyramiden. Man sollte sie in die Kirchen hängen; denn sie sind heilig. Sehn Sie hier«, und er legte den schmalen harten Finger auf eine Zeichnung, welche mit ungelenken Strichen ein kleines Haus darstellte; »das hat die Sehnsucht gemacht, und der Glaube hat ein Gebet drunter geschrieben und die Verzweiflung einen Fluch, und der Hohn hat mit wunden, blutenden Nägeln um alles das herum eine Fratze gezeichnet, in der das liebe kleine Haus aussieht wie ein gieriges, weitgeöffnetes Maul. Haben Sie jemals ein furchtbareres Gemälde gesehen?«
»Kommen Sie«, sagte Wanka, von plötzlicher Furcht erfaßt.
Rezek folgte. »Ich komme oft her«, sagte er. »Es geht so langsam mit dem Niederreißen. Ich lese in diesen Wänden wie im Buche der Offenbarung. Auf viele Fragen habe ich da Antwort gefunden.«
Sie schwiegen. »Freilich«, fügte Rezek an, als sie aus dem Tor traten, »die Antwort ist schließlich wieder eine Frage. Aber nur eine, immer dieselbe, und das ist nicht so schrecklich wie die vielen.«
»Was ist das eigentlich für ein Haus?« fragte Wanka jetzt und wandte sich zurück zu dem verlassenen Bau, der schwarz und groß mit seinen leeren Fenstern vor dem Abend
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