Die Erziehung - Roman
stechenden Migräne aus der Ruhe bringen zu lassen. Am nächsten Tag scharte man sich im Morgengrauen um die Türen des Wagens, und der Abschied bekam etwas Endgültiges. Die Schicksalsschläge des Aufenthalts hatten die Menschen aneinandergeschmiedet, man versprach sich zu schreiben, schwor sich tiefe Freundschaft. Als sich die Kutsche in Bewegung setzte, betrachtete Gaspard ein letztes Mal den Garten der Présidente, das Gebäude vor dem malvenfarbenen Himmel. Eine Unsicherheit beschlich ihn: Hätte er nicht bleiben und sich nicht mehr um Etienne scheren sollen? Setzte er durch diese Abreise nicht seine Zukunft aufs Spiel? Der Baron Raynaud hielt fest seine Hand, als würde diese Berührung reichen, um ihn vor dem Tod zu retten. Seine Augen schauten den jungen Geliebten mit wiedergefundenem Vertrauen zärtlich an.
Die Reise verschlimmerte seinen Zustand, und die Krankheit wuchs sich zu einer eitrigen Bronchitis aus. Drei Tage lang lösten sich die Spezialisten der Hauptstadt an Raynauds Bett ab. Ganz Paris versammelte sich unten in den Salons, während der Baron in einem der Zimmer im ersten Stock unaufhörlich einen blutigen Schleim auswarf, der großzügig die Becken füllte, die die Kammerzofen in der Nähe des geschwächten Kopfes an den Bettrand stellten.
Die Agonie des Barons Raynaud war für Gaspard ein Glücksfall: Sie erlaubte ihm, sich vom Bettende des Kranken zu entfernen, da eine ständige Anwesenheit Verdacht erweckt hätte. Die Trivialität des Apartments des Comte d’Annovres sprang ihm in die Augen, aber es gefiel ihm, wieder allein zu sein, vor den Blicken der anderen geschützt in aller Ruhe den Schmutz aus seinem Körper entfernen zu können. Die Spiegelscherbe wurde zum Werkzeug dieser Reinigung, mit der Gaspard in Chartres begonnen hatte. Jeden Abend entkleidete er sich, breitete ein fleckenübersätes Laken über das Bett und legte sich darauf. Die Berührung mit dem Glas beruhigte ihn. Gaspard sah darin die bevorstehende Erleichterung, das Heilmittel gegen sein tiefes Gefühl der Fremdheit. Das Instrument tauchte in die Haut, schnitt durch das Fleisch. Ein eigenartiges Wohlbehagen erlaubte es ihm, seinen von Schmerzen gepeinigten Körper wieder in Besitz zu nehmen. Das Blut floss über seinen Unterleib, erblühte auf dem Laken. Während Raynaud im Sterben lag, fügte sich Gaspard erst kurze Schnitte zu, dann führte er die Klinge quer über den Bauch. Es kam vor allem darauf an, dass der Unterleib vollständig durchzogen war, dass nichts von der makellosen Haut übrig blieb. Manchmal zog er ein Stück der Oberhaut ab. Doch das Gewebe brachte nur Banalität zutage: das Gelb der Fettschicht, das Rot der Muskeln, den Verlauf der Äderchen, die ihren scharlachroten Saft ausspuckten. Der Anblick seines verstümmelten Bauches rief ihm jedes Mal das Tosen des Flusses in Erinnerung, die Fluten, die in ihrer Schwärze den Dreck von Paris mit sich führten. Man musste, dachte Gaspard, tief graben, um zu dieser Essenz vorzustoßen, zu dieser Unreinheit, diesem in seinem Bauch, tief in seinem Wesen vergrabenen Strom. Er konnte sich die Oberflächlichkeit seiner Geste nicht verzeihen. Als er sich der Reichweite seines Vorhabens bewusst wurde, drehte sich ihm der Magen um, und er legte die Spiegelscherbe rasch aufs Laken.
Raynaud starb. Innerhalb einer Woche raffte ihn die Infektion dahin, ohne dass eine Arznei seine Schmerzen lindern konnte. Mathieu klopfte mitten in einer schwülen Nacht in der Rue des Petits-Champs an Gaspards Tür. Er versuchte nicht, die Geringschätzung in seiner Stimme zu verbergen und die Tatsache, dass nur der Zwang ihn zu ihm führte. Gaspard wusste, dass Mathieu seinen Meister zu überzeugen versucht hatte, in Chartres zu bleiben. Nun verlangte jener von ihm, Gaspard so schnell wie möglich zu holen. Auf der Straße wartete eine von Fackeln beleuchtete Droschke; Gaspard zog sich an und stieg ein. Er hatte den Tod des Barons als Kleinigkeit angesehen, einzig Etienne beschäftigte ihn. Doch während der Wagen in Richtung der Stadtschranken rollte, musste er an die Folgen dieses Ablebens denken. Raynaud hatte behauptet, seine Rückkehr zu wünschen, und Gaspard hatte diese Entscheidung vor den Gästen der Présidente de Cerfeuil missbilligt. Man konnte ihn also nicht verdächtigen, für die Verschlimmerung seines Zustandes verantwortlich zu sein. Aber hatte er nicht ihre Rückkehr forciert, ohne an die Folgen zu denken? Riskierte er mit seiner Dreistigkeit und seinem Übereifer
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