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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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belebten das Feuer. Etienne hatte sich wieder davongemacht, trotz seines kritischen Zustandes. Wieder löste der Comte de V. bei Gaspard das Gefühl der Verlassenheit aus, unter dem er in der Vergangenheit so sehr gelitten hatte. Jenseits der Zeit fand er sich in der Verzweiflung des Ateliers wieder. Gaspard hatte geglaubt, ein Rest von Zuneigung wäre der Grund für Etiennes Rückkehr gewesen; doch es war nur ein Zufall, und das Stillschweigen des Grafen war keine Aufforderung zum Verzeihen gewesen. Die Gleichgültigkeit trieb ihn, und eine Verachtung, die er nie abgelegt hatte.
    Gaspard wurde von Quimper eingeholt, das eine nahezu erloschene, gefährliche Flamme wieder aufflackern ließ, seine Abhängigkeit vom Comte de V., die wie ein unsichtbares Gift wirkte. Wieder ruinierte ihn Etienne. Gaspards Liebe und sein Hass richteten sich im Zimmer auf und machten jede Fähigkeit zunichte, Körper und Geist in Griff zu haben. In ihm war nichts Vertrautes, nichts Verlässliches mehr. Etiennes Abreise war ein Gnadenstoß, sie vollendete sein Werk, ohne dass Gaspard sich dessen bewusst war.
    Er klopfte an Baron Raynauds Tür. Mathieu öffnete. Die Vorhänge dämpften die Atmosphäre. Der Geruch nach Kampfer, nach Senfumschlägen, nach einem trockenen, kalten Körper schlug ihm entgegen. »Lassen Sie uns allein«, befahl Gaspard, ohne den Garçon eines Blickes zu würdigen. Mathieu verbeugte sich und verließ den Raum. Raynaud lag im Bett. Sein Oberkörper war durch dicke Kissen hochgelagert, Laken und Decken bis unter das Kinn gezogen. Seine bleiche Stirn verschwand unter einer Schlafmütze, obwohl im Zimmer eine drückende Hitze herrschte. Gaspard erriet, dass man ihm Öle aufs Kissen getropft hatte. Er blieb am Eingang des Zimmers stehen und betrachtete die versunkene Gestalt des Barons. Endlich bemerkte ihn der Alte und klopfte mit der Handfläche auf die Matratze, um ihn aufzufordern, sich neben ihn zu setzen. Ein Lächeln schnitt sich in das zuvor reglose Gesicht. Mit zitternder Stimme sagte er: »Kommen Sie her, mein Kleiner, mein Kind. Oh, es geht Ihnen besser, ist das nicht das Einzige, was zählt? Los, nur nicht so schüchtern, kommen Sie zu mir!« Gaspard fuhr fort, die Silhouette im Bett zu betrachten. Die Daunendecken schienen den Baron aufzufressen. Gewöhnlich mürrisch und wenig gesprächig, sprach er nun sanft und flehte Gaspard auf eine Weise an, die ihm anstößig vorkam. Warum , überlegte er, geben der Tod und die Liebe den Menschen diese schwülstige Ausdrucksweise? Versetzen diese Zustände sie so sehr außer sich, dass sie diese Gefühlsseligkeit ausbreiten müssen, die den Gesunden und all jenen, die nichts für Leidenschaften übrighaben, unerträglich sind? Das Parkett quietschte unter seinen Schritten, als er Richtung Bett ging. Er stellte sich zur Rechten des Barons und schlug die ausgestreckte Hand aus. Den Greis überragend, weigerte er sich, sein Gesicht über ihn zu beugen, gönnte ihm nur einen schrägen, undurchdringlichen Blick. Raynauds Atem kämpfte sich pfeifend durch eine Ansammlung von Schleim, an einem entzündeten Kehlkopf vorbei. Ein Hustenanfall schüttelte ihn, spannte seinen Hals, ließ seine Augen rot anlaufen. Er führte ein Taschentuch an die Lippen, spuckte hinein und legte außer Atem, mit Tränen auf den Wangen den Kopf aufs Kissen zurück. Seine Stimme knirschte: »Oh ja, oh ja, so liebe ich Sie, ganz in meiner Nähe. Wie gut, dass Sie bei mir sind. So werde ich wieder gesund. Geben Sie mir doch das Glas Wasser, bitte.« Gaspard griff gleichgültig nach dem Glas und drückte es dem Baron in die Hand. Ein paar Tropfen liefen ihm über die Brust, sofort von seinem Nachthemd aufgesaugt. Er führte das Glas an die Lippen, trank gierig. Seine von einem gräulichen Bart bedeckten Wangen zitterten bei jedem Schluck. Gaspard sah ihm zu, wie er seinen Durst löschte, und fand ihn erbärmlich. Er wunderte sich, dass er sich so leicht zu seinem Geliebten hatte machen lassen. Gut, der Baron war ihm nützlich, aber hätte er nicht auf ihn verzichten können? Hätte seine Selbstsicherheit nicht ausgereicht, um in der Gesellschaft aufgenommen zu werden? Raynaud nutzte seine Schwäche aus. Natürlich, dachte Gaspard weiter, hatte er ihm in gewisser Weise Etienne zurückgebracht, auch wenn er keinerlei Dankbarkeit dafür empfand. »Das ist freundlich von Ihnen, das tut gut«, sagte Raynaud. Er gab das Glas zurück und unterdrückte einen schleimigen Rülpser. »Machen Sie sich keine

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