Die Erziehung - Roman
ersticken müssen, wenn sie ihr nicht erliegen wollen. Für jene, die nicht den Mut haben, ihr eigenhändig ein Ende zu setzen – das ist bei unserem Mann der Fall –, ist der Schlaf das sanfteste Linderungsmittel.« Gaspards Körper versteifte sich bei den Worten des Grafen, von denen jedes Einzelne das Elend bezeichnete, das ihn umgab. »Ich bin so früh gekommen, mein Junge, in der Hoffnung, niemand anderen als Sie anzutreffen.« Der Klang seiner Stimme stellte Gaspards Arglosigkeit bloß, der keinen Augenblick auf die Idee gekommen wäre, der Besuch könnte ihm gelten. »Sie bin ich besuchen gekommen«, wiederholte der Graf, indem er Pathos in die Worte legte, um ihre Wirkung zu verstärken. Der Lehrling schloss daraus, dass er ihn mit einem Fauxpas konfrontieren wolle, den er bei seinem letzten Besuch im Atelier unwissentlich begangen hatte, und stammelte eilfertig Entschuldigungen, ohne nach dem Grund für den Verweis zu suchen, dem er so zuvorkommen wollte. Etienne de V. mokierte sich über seine Erregung und brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen: »Gerade Ihre Zurückhaltung habe ich geschätzt. Sie scheinen ein sehr gesitteter Junge zu sein, nicht wahr?« Er ließ die Frage offen und fuhr dann mit gespieltem oder echtem Desinteresse fort: »Sehen Sie, ich spaziere gerne. Es fällt mir schwer, in der Stadt jemanden zu finden, der mich begleitet, und die Langeweiler, die zu viel reden, die Ängstlichen, die bei der ersten düsteren Straße kehrtmachen, und die Nichtsnutze habe ich längst satt. Da haben Sie, in drei Menschenkategorien, eine Darstellung des Adels. Es fehlt uns schrecklich an Geheimnis, schon ein Spaziergang genügt, um alles preiszugeben. Sie wissen bestimmt, dass ganz Paris spaziert, sooft es kann, daher dieser allumfassende Mangel an Interesse.« Gaspard deutete ein gezwungenes Lächeln an, unsicher, welche Reaktion der Graf von ihm erwarten könnte. Er klopfte den Staub von seinem Rock. »Würden Sie einwilligen, mich zu begleiten?«, fragte Etienne de V. Gaspards Atem gelangte nur bis zu den Lippen. Er stammelte: »Wenn Monsieur es wünscht … Monsieur, dies ehrt mich …«, dann verfiel er wieder in sein benommenes Schweigen. Zwei Grübchen bohrten sich in die frisch rasierten Wangen des Grafen. »Übermorgen Abend, würde Ihnen das passen?« Er nickte zu seinen Worten, Gaspards Meinung war ihm fortan gleichgültig. »Sagen Sie Billod nichts davon. Er hat nämlich nicht nur ein Laster, seine Eifersucht übertrifft noch seine Faulheit. Ich meine verstanden zu haben, dass er Sie ziemlich gerne mag, er könnte Ihnen verbieten auszugehen, um irgendwelche obskuren Rachegelüste zu befriedigen.« Gaspard stimmte lebhaft zu, so unerträglich war ihm der Gedanke, der Meister könne verhindern, dass er den Grafen sah. »Dann also bis bald«, schloss der Mann und streckte die Hand aus. Der Griff war kurz und kräftig, und Gaspard genoss es, einen wenn auch noch so winzigen Teil dieses Körpers zwischen seinen Fingern zu spüren, fühlte unter den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger die trockene Handfläche, die knochigen Finger, den leichten Flaum auf dem Handrücken. In seiner Verwirrung beugte er sich respektvoll vor: »Auf Wiedersehen, Monsieur«, sagte er und wich dem Blick aus, der den seinen suchte. »Nennen Sie mich Etienne, wir sollten uns auf unseren Ausflügen an die Einfachheit halten. Sie können mir ganz zwanglos begegnen.« Er sah ihn vertraulich an. Durch die geöffnete Tür fiel eine Lichtkaskade auf seine Schultern, und der Comte de V. wurde vom Strom der Straße davongetragen. Im oberen Stockwerk brachten Billods Schritte die Bretter des Fußbodens zum Ächzen. Gaspard schloss die Tür, blieb reglos stehen, die Metallklinke in der Hand, auf der wenige Augenblicke zuvor jene des Grafen gelegen hatte. Seine Augen hefteten sich auf das lackierte Holz. Ein Gefühl der Unwirklichkeit war in ihm, als wäre die entschwundene Szene nur ein Traum gewesen. Gaspard hatte die Stadt nach ihm abgesucht, und nun war Etienne zu ihm gekommen. Wären sie einander an einer Straßenkreuzung in die Arme gelaufen, hätte Gaspard kein Wort herausgebracht, so unsinnig war es, an die Möglichkeit einer Freundschaft zweier Männer zu glauben, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Und doch, hatte der Graf ihm nicht genau das angeboten: einen Moment der Vertrautheit mit ihm zu teilen, die er anderen seines Ranges verweigerte in der Meinung, er könne sie nur in Gaspards Gesellschaft erleben?
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