Die Erziehung - Roman
War es möglich, dass Etienne de V. dieselbe Verwirrung empfunden hatte, als sie einander vorgestellt wurden? Davon hatte er freilich nichts durchscheinen lassen.
Oder hatte er vielleicht die Rührung des jungen Mannes gefühlt und sie ausgenutzt, um ihn an sich zu ziehen? Gaspard war ein gewöhnlicher Lehrling, von welchem Interesse konnte er schon für einen Mann wie Etienne sein? Fragen über Fragen. Hielt er ihn zum Narren? Billods Stimme rief seinen Namen, außer sich vor Ungeduld, und riss ihn aus seinen Gedanken. Er nahm die Hand von der Klinke, fühlte, wie sich die Haut von der metallischen Oberfläche löste, und kam durch diese Geste wieder zu sich. Er rieb sich lebhaft das Gesicht, dann stieg er die Treppe hinauf zu seinem Meister.
Die beiden Tage schleppten sich mit zermürbender Langsamkeit dahin. Jede Minute dehnte sich ins Unendliche, jede Sekunde erstarrte zur Unbeweglichkeit. Gaspard hatte das Gefühl, in zähflüssigen Teig gehüllt zu sein. Gleichgültig sah er dem Kommen und Gehen der Kunden in der Werkstatt zu, führte mechanisch Billods Befehle aus. Sein Geist war ganz auf die nächste Begegnung mit Etienne gerichtet. Fragen, Zweifel nagten an ihm, stumpften seine Aufregung ab, um dann wieder der Hoffnung auf die Erlösung Platz zu machen, die das Rendezvous verhieß. Die Nächte waren endlos und zerfasert. Das Atelier war in das Blau eines Blutergusses getaucht. Die Gegenstände, die die Dunkelheit preisgab, umkreisten Gaspard. Die Perücken hingen als reglose Dunstschwaden über den Geistern der Schneiderbüsten, von einer Guillotine gepflückte Trophäen. Gaspard konnte nicht einschlafen, er erforschte diesen Anblick der Werkstatt. In seiner Versteinerung wurde alles zum Feind, rief Gedanken zur Revolte hervor, die Qualen wurden unaushaltbar. Gaspard lag auf dem Rücken, von der Kälte ganz verspannt, eine Grabfigur, deren Blick über die Gestelle, über die Schneide des Schattens glitt. Er richtete sich auf, spürte, wie die Luft kühl und unfreundlich in ihn eindrang, aus seinen Nasenflügeln auf die Oberlippe wieder ausströmte. Seine Glieder waren so schwer, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Die hereinbrechenden Spukgestalten, von der Nacht herbeigerufen, untersagten ihm jede Bewegung. Er versuchte sich festzuklammern an etwas, das im Atelier greifbar war, am Stofflichen irgendeines Details. Die Finsternis hob die Gewissheit der Dinge auf. Alles war brüchig, gleitend, visionär. Die Vergewaltigung des Kindes war noch lebendig in seinem Geist, und mit diesem Bild die Angst, vom Irrationalen erfasst zu werden, selbst in diese Schwärze, die in ihm und außerhalb von ihm lauerte, in diesen Wahnsinn zu versinken, der ringsum greifbar war. Gaspard war kein Vergewaltiger, aber er glaubte sich von einer ähnlichen Monstrosität besessen. Er war ein Individuum wie jedes andere und in dieser Banalität zum Schlimmsten fähig. Am zweiten Morgen erwachte Gaspard bedrückt beim Gedanken an den kommenden Tag. Doch die Aussicht, am Abend Etienne wiederzusehen, brachte ihm blitzartig Erleichterung. Die des Nachts erwachten Dämonen flüchteten mit dem Morgengrauen und waren in seinem Bewusstsein bald nur noch eine schwache Erinnerung. So hatte er, als er fertig gewaschen und angezogen war, keinerlei Mühe zu folgern, dass seine Ängste nur im Reich der Träume existierten, wo die Gesetze der menschlichen Natur außer Kraft gesetzt waren.
Er wartete, bis Billod sich hingelegt hatte, um wieder aus dem Bett zu steigen und sich aus der Werkstatt zu stehlen. Auf der Straße nahm er den Geruch eines Feuers wahr. Er schnupperte. Offenbar wurde ein paar Straßen weiter Holz verbrannt. Bald würden die Kamine speien, die Stadt nach Herd und Ruß stinken. Bei dieser Vorstellung lief ihm ein Schauder über den Rücken. Gaspard zog die Tür hinter sich zu. Eine Kutsche mit einem streitenden Paar fuhr vorüber, ihre Schreie drangen bis zu ihm. Er sah Etienne, der sich an die Auslage eines Verkaufsschuppens lehnte, sofort. Er schaute nicht in Richtung Atelier, und Gaspard betrachtete sein Profil. Er trug eine Weste und ein dunkles Hemd. Beides verschmolz mit der Dunkelheit. Als er die Anwesenheit Gaspards bemerkte, grüßte er ihn mit einem Kopfnicken. »Gehen wir«, sagte er nur. Gaspard folgte ihm, beeilte sich, ihn einzuholen. Sie gelangten in die Rue Hautefeuille und gingen weiter Richtung Ecole de Chirurgie. Etienne sprach kein Wort. Er blähte seinen Oberkörper, um die Nachtluft besser einsaugen zu
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