Die Erziehung - Roman
können, schien den Spaziergang zu schätzen, sich aber nicht um seinen Weggefährten zu kümmern. Gaspard folgte ihm, zögerte zu sprechen, zog es vor zu schweigen, um nicht aufdringlich zu wirken. Er war verlegen, überzeugt, von der Eleganz Etiennes abzustechen. Er trottete hinter ihm her wie ein Diener, ein Straßenköter, der auf ein Stück trockenes Brot aus war. Er hatte das Gefühl, die Passanten, die sich in die Schenken begaben oder aus den Tavernen kamen, sähen ihn verächtlich an. Doch der Graf schenkte Gaspard genauso wenig Beachtung wie den Nachtschwärmern, unter denen er sich völlig zwanglos bewegte. Er blieb inmitten der zerlumpten Gestalten und Bettlerfratzen unbehelligt. Das ist bestimmt , dachte Gaspard, weil zu dieser stattlichen Erscheinung noch ein verwirrendes Gefühl hinzukommt, ein Schatten, der sofort als Bedrohung wahrgenommen wird . Doch er spürte auch, dass diese männliche Kraft ihn beschützte. Dabei hatte sich Gaspard nie vor der Stadt oder der Gewaltsamkeit ihrer Niederungen gefürchtet. Er erinnerte sich, wie er tief in der Nacht die Ufer entlanggegangen war, ohne sich auch nur eine Sekunde lang zu sorgen, dass er sich in den Morgenstunden mit durchgeschnittener Kehle auf dem braunen, von Tau bedeckten Gras wiederfinden könnte. Woher rührte dieses tröstliche Gefühl, wenn er mit dem Grafen zusammen war? Er suchte nach einer Antwort, als Etienne vor der wurmstichigen Tür eines Wirtshauses stehen blieb, aus der sich ein Paar herausquälte. Die Bluse der dicklichen blonden Frau riss krachend auf und gab eine Brust frei. Der Bart des Mannes umgab einen lippenlosen Mund, der beim Öffnen zahlreiche Zahnlücken enthüllte. Aus dieser Höhle ragte eine Zunge, während sich zugleich eine Hand in die aufgeschnürte Bluse drängte, rabiat an der Brust zerrte und zog. Das Paar entfernte sich über die Straße. Von der Tür erhob sich dichter Geruch nach Alkohol, den Dünsten von Männern und Frauen, die durch ihre Poren den Wein und das Bier, die Liköre und die Schnäpse ausschwitzten. »Ein malerischer Ort, nicht wahr?«, sagte Etienne. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in der Tür. Gaspard war ihm gefolgt, ohne auf den Weg zu achten, und wusste nicht, in welcher Gegend der Stadt sie sich befanden. Allzu weit konnten sie nicht gegangen sein, da das Viertel noch immer einfach war. Kannte der Graf diese Schenke? Warum sonst hätte er sich über das offensichtliche Elend des Ortes äußern sollen? Hatte er geplant hierherzukommen oder aufs Geratewohl Halt gemacht? Das Paar war um die Ecke eines Gebäudes verschwunden, ein frischer, feuchter Wind leckte die Straße wie eine Zunge. Gaspard trat ein.
Der Raum war so dunkel, dass es eine Weile dauerte, bis seine Augen die Formen der Tische und der im Dreck suhlenden Körper ausmachen konnte. Es herrschte ein betäubendes Stimmengewirr. Von den Wänden ließen die Kerzen ihr Wachs auf die angesammelten Paraffinleichen und die Regale regnen, wo es sich wie Rotz ausbreitete, um schließlich auf dem durchgetretenen Holzfußboden zu erstarren. Die glühenden Dochte erleuchteten die hässlichen Gesichter, die im nächsten Moment wieder von der gierigen Dunkelheit des Wirtshauses verschlungen wurden. Die Tischbeine ragten aus einer dicken Schicht von Dreck hervor, als wären sie Teil von ihm. Ringsum leerten die Gäste ihre Gläser in die Mäuler, Abgründe, die den Blick auf die von Alkohol zerfressenen Kehlen freigaben. Frauen rekelten sich trunken und lüstern auf Männerschößen. Haut wurde entblößt. Die pickelübersäten Hälse waren von Schweiß bedeckt. Ein entsetzlicher Lärm gesellte sich zu dem Geruch der Liköre, die auf den Bäuchen und auf dem Boden glänzten. Wesen von zweifelhafter Menschlichkeit tanzten mit nackten Füßen, drehten sich unentwegt im Kreis, den Blick durch den fiebrigen Reigen benebelt. Heiterkeit verzerrte ihre Gesichter, bevor sie hinter dem in ihrer Trance aufgewirbelten Staub verschwanden. Eine Frau, das Gesicht von einer Schuppenflechte entstellt, kippte lachend hintenüber und schlug auf dem Boden auf. Ihr Kleid rutschte über eine zu knappe Unterhose. Hinter dem Holztresen stand ein knochiger Wirt, sein kantiger Schädel war von einer Haut bedeckt, die schon allzu lange kein Tageslicht mehr gesehen hatte. Er warf Gaspard einen kurzen Blick zu und zeigte mit dem Kinn auf einen Tisch in der Ecke des Raumes. Der Graf hatte sich bereits hingesetzt. Machte ihm ein Zeichen. Der Wirt nickte, als Gaspard
Weitere Kostenlose Bücher