Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
sich zu ihm setzte. Die Gäste beobachteten sie aus den Augenwinkeln, zu betrunken, um sich über die Anwesenheit eines Adeligen zu erregen. »Ich nehme an, Billod hat Sie über meine Angewohnheiten unterrichtet. Sie werden also nicht allzu überrascht sein zu sehen, dass die Orte, an denen ich mich in Paris gern aufhalte, von den ehrbaren Leuten geflissentlich gemieden werden.« Der Wirt stellte den Wein vor sie hin. Gaspard hielt die Augen auf den Rand seines Glases geheftet, während Etienne mit Kennerblick von seinem probierte. »Ungenießbar.« Er stellte es auf den Tisch zurück. Die Gäste um sie herum grölten so laut, dass er die Stimme heben musste: »Mögen Sie guten Wein, Gaspard?« Dem jungen Mann waren solche Überlegungen fremd, er kannte nicht den Unterschied zwischen einem Wein von Qualität und dem ekelhaften Gesöff, mit dem er sich manchmal betrank. »Nein, natürlich nicht«, fuhr Etienne fort, »ich bin der Einzige hier, der darüber urteilen kann.« Er untersuchte durch das Glas die Maserung des Weins. »Sehen Sie sich einmal um: dieser Wein, diese Leute, diese Niedrigkeit, die Ihnen natürlich und unwandelbar erscheint. Unsere Rasse ist zu keiner Zeit, zu keiner Epoche zu der Einsicht fähig, ihren Niedergang zu erkennen. Tag für Tag bekommt man alles über den Menschen mit, seine Unterwürfigkeit, seine Resignation. Dies, fürchte ich, wird sich nie ändern. Wenn wir also verloren sind, was bleibt uns dann, außer diesem kläglichen Wein, der so betrachtet schon viel besser, vielleicht sogar ausgezeichnet ist?« Sie leerten gleichzeitig ihre Gläser. Etienne zog einen Tabakbeutel aus seiner Westentasche, hielt ihn Gaspard hin. Der Alkohol tat seine Wirkung, führte zu einer Art Vertrautheit zwischen ihnen. Die von krächzenden Stimmen gesättigte Atmosphäre füllte ihre Lungen mit Euphorie. Der Tabak hatte einen ungewöhnlichen Geschmack. Er ist, dachte Gaspard – in Wahrheit war er unfähig zu unterscheiden –, überhaupt nicht mit dem jämmerlichen Zeug zu vergleichen, das Lucas manchmal kaute . Zwei Männer prügelten sich, ein Tisch kippte um. Man schaffte es, sie zu überwältigen und hinauszubefördern, wo sie weiter aufeinander einschlugen, bis ihre Gesichter zu scharlachrotem Brei wurden. Eine Frau in einer Ecke des Raumes, deren Trägheit den Eindruck erweckte, dass sie mit dem Ort vertraut war, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Aus den Falten eines Kleides, in dem ein großes Loch klaffte, ragten zwei abgezehrte Beine heraus, die immer wieder aufzuckten. Sie fielen über die Schenkel der Frau, und Gaspard dachte erst, dass sie zwischen den Stoffbahnen ein Kind verbarg; doch unter dem Kleid deuteten sich noch weitere Auswüchse an. Die Frau kratzte dieses parasitäre Zwillingsgebilde gleichgültig, als würde es sich um einen normalen Körperteil handeln. Gaspard wandte den Blick angewidert ab: Wie sie so an der Wand saß, ließ ihn an seine vor dem Herd zusammengesackte Mutter denken. Etienne zitierte Paré: »Göttliche Dinge, herrlich und verborgen, gibt es bei den Ungeheuern.« Seit er sie mit seiner Mutter verglichen hatte, stellte die Frau für Gaspard eine latente Bedrohung dar. Doch während sich die Gläser auf dem Tisch sammelten, vergaß er die Angst der vorangegangenen Tage und die Qualen, die er ohne Unterbrechung ausgestanden hatte. Etiennes Worte perlten an ihm ab wie Wasser von einem Gefieder. »Diese Frau«, fuhr er fort, »galt gestern noch als Trägerin des Geheimnisses der Welt. Doch wir befinden uns im Jahrhundert der Aufklärung, und dieses hat nichts für Rätsel übrig. Nun ist sie nur noch eine Frau mit einer Missbildung, ein Schulbeispiel, mehr Studienobjekt als Jahrmarktsphänomen, vorgeführt zu dem Zweck, auf die Gefahren der Inzucht aufmerksam zu machen. Die Armen treiben es nun mal gerne unter sich«, fügte er nach einer Pause hinzu, und Gaspard vermutete, dass seine Anwesenheit nebensächlich war, dass Etienne diese Worte, über die er sich hätte ärgern können, an sich selbst richtete. »Kennen Sie Liceti? Ein erstaunlicher Mann, der in Padua und Bologna Medizin lehrte. Ich bedaure, dass die Fantasten seiner Art langsam aussterben. Bedenken Sie, dass er zu seiner Zeit bekannter war als unsere Biologen und andere Mythenzerstörer; er hat sie geschaffen. So dachte er, dass die menschliche Schwangerschaft zwischen sieben und zwölf Monaten variiert und eine Frau von jedem Tier befruchtet werden kann, dessen Art eine entsprechende

Weitere Kostenlose Bücher