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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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doch keinerlei Gewissen regte sich. War es betäubt? Vorübergehend nicht anwesend? Für immer zerbrochen? Unwichtig, denn er hielt es für gesichert, dass der Regen der alleinige Schuldige war. Vor seinen Füßen kauerte Marine Champouillon, sechs Jahre alt, und planschte in einer Wasserpfütze.
    »Das Kind beklagte sich, dass es beim Wasserlassen brannte. Die Mutter machte sich Sorgen, weil ihre Muschi rot und geschwollen war, ein wenig nässte und manchmal Blut an ihren Kleidern war. Sie hatte kein Geld, um zum Arzt zu gehen, musste sparen. Glauben Sie mir, als ich endlich kam, lag das Kind bereits im Sterben, an einer Infektion, die Vulva sah aus wie eine überreife Tomate. Das war schon auf der Straße zu riechen. Nach der Untersuchung habe ich ihr etwas zum Desinfizieren verschrieben, aber das wird nicht helfen. Inzwischen ist sie bestimmt verschieden. Sie ist missbraucht worden, und das mehr als einmal, auf alle möglichen Arten.« Doktor Chaillon beschrieb die Vergewaltigung des Kindes, während er auf dem Kopf eine Perücke zurechtrückte. Billod verzog das Gesicht. »Was denn, mein Freund, sollte man etwa in Perückenmacherkreisen keine solchen Geschichten hören? Das kommt doch die ganze Zeit vor. An jedem Tag, den Gott gemacht hat. Ich könnte endlos weitererzählen! An jeder Straßenecke wird vergewaltigt, getötet, gemordet. Die Gefängnisse sind überfüllt von diesen Schurken. Das ist Paris. Im Übrigen vergesse ich all diese Anekdoten. An diese eine denke ich, weil ich erst heute dort war, aber morgen schon wird sie vergessen sein. Ich vergesse sie, verstehen Sie? Ist nicht genau das, Billod, der Beweis für unseren Verfall? Das Vergessen? Der Grund, warum wir zugrunde gehen? Das, wohin uns alles einst führt? Sie finden es schrecklich, dass ich vergesse, ich lese das an Ihrem schiefen Gesicht ab. Aber das ist das tägliche Brot für uns alle. Oh, ich sage es Ihnen, das ist eine der Anomalitäten unserer Rasse.« Gaspard blieb im Hintergrund, sprachlos. Die Sache hatte sich in seinem Viertel zugetragen, wenige Straßen von der Werkstatt entfernt. Er stellte sich die Leiche des Mädchens in seinem Bett vor, und dieser Körper schien in seiner Vorstellung mit der Seine in Verbindung zu stehen. Etwas von der Aura des Flusses brach in die Stadt ein und rief seine Existenz in Erinnerung. Was bedeutete, abgesehen von der Brutalität der Tat, schon der Tod eines Kindes? Jede Mutter verlor mehrere Sprösslinge im Kindsbett, ehe sie einen lebensfähigen Balg zur Welt brachte. Warum sollte der Tod eines sechsjährigen Kindes empörend sein, wenn man sich kaum über den eines mehrtägigen oder mehrmonatigen Neugeborenen betrübte? Es war nicht der Tod, der schockierte, es war die Gewaltsamkeit der Tat. Dabei, dachte Gaspard weiter, während Doktor Chaillon bezahlte und Billod ihn über den Tripper ausfragte, lauerte diese Gewalt überall. Sie verwirklichte sich hier in einem Akt ohne Kompromiss. Man tolerierte die gewöhnliche Gewalt, wenn sie sich nicht vom Alltag abhob, man lehnte sich nur dann auf, wenn sie die Kühnheit hatte, vor aller Augen auszubrechen. Bringt etwa die erste nicht die zweite hervor ?, fragte sich Gaspard. Der Täter war geflohen, man hatte ihn nicht gefunden, wie bei zahlreichen anderen heimlich begangenen Vergewaltigungen. Wo in der Stadt konnte er sich in diesem Augenblick verstecken? Woran dachte dieser Mann? Gaspard versuchte sich in den Geist eines Vergewaltigers hineinzudenken. Diese Anstrengung löste absolut nichts in ihm aus.
    Schließlich drang das Wasser unter der Tür zum Hof hindurch. In der dritten Regennacht schreckte Gaspard aus dem Schlaf auf. Hatte er von diesen Kinderkörpern, die über einen schwarzen Fluss gefahren wurden, nur geträumt? Er fühlte sich klebrig an, und durch die Dunkelheit des Kellers schnalzte eine Zunge. Gaspard lauschte, suchte die Mäander des Raumes ab und tastete dann nach einem Streichholz, das beim Entzünden einen Schwefelgeruch von sich gab. Der Docht der Kerze warf ein Gespenst an die Kellerwand. Gaspard stellte fest, dass das eingedrungene Wasser auf die Zimmermitte zukroch. Als schwarzer, schleichender Tümpel bewegte es sich auf ihn zu. Ein mephitischer Geruch entstieg der trüben Flüssigkeit wie einem Weihrauchgefäß. Er beeilte sich, seine Matratze weiter weg zu rücken, dann setzte er sich auf sie, zog die Knie unters Kinn, den Blick starr auf diesen verheerenden Vormarsch gerichtet. Das Wasser kräuselte sich, erfasste die

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