Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
Wohlstandsgesellschaft verschwendet werden. Damals hatte ich ein diebisches Vergnügen, die Pfirsiche einzusammeln, bevor sie von der Müllabfuhr abgeholt wurden. Genauso wie Bananen, Kiwis, Salatköpfe, Pilze, Gurken, jeden Tag gab es etwas anderes, und das Einzige, was ich tun musste, war, ein paar faulige Früchte aus dem Netz oder der Kiste zu entfernen.
Mit uns unterwegs waren Dutzende von anderen Sammlern, doch wir kamen uns nicht ins Gehege, denn es war genug für alle da. Einige von ihnen wirkten etwas abgerissen, aber die meisten wirkten nicht wie Obdachlose. Aber den Tipp, es hier auf dem Borough Market zu probieren, hatten wir von einem Obdachlosen bekommen.
Hinter uns lagen die Sommerferien, in denen ich mit meinem Schulfreund Jörg auf dem Fahrrad durch Südengland getingelt war. Am Ende fanden wir uns in London wieder, und hier ging uns das Geld aus, zehn Tage vor Ferienende. Wir hatten unsere Rückfahrkarte nach Deutschland, das war nicht das Problem, aber wir wollten unsere Ferien eigentlich nicht verfrüht abbrechen. Außerdem hatten wir gerade George Orwells »Down and Out in Paris and London« gelesen und fühlten uns davon zu einem Großstadtabenteuer inspiriert.
Wir beschlossen, es zu probieren: zehn Tage London ohne einen Penny. Und waren erstaunt, wie einfach es war! Orte, an denen essbare Lebensmittel weggeworfen wurden, gab es im ganzen Stadtgebiet, man musste nur rechtzeitig vor Marktende kommen und ein wenig aufpassen, dass man nicht gerade in die Hände eines Aufsehers lief. Es lief allerdings im Wesentlichen auf eine Obstdiät hinaus. Eigentlich mag ich Obst sehr, aber ich muss zugeben, am Ende kamen mir die Bananen beinahe zu den Ohren heraus. Doch der sportliche Ehrgeiz war geweckt, die zehn Tage wirklich ohne Geld zu überstehen.
Am Ende des Urlaubs überquerte ich auf der Fähre den Ärmelkanal mit dem Gefühl, hier läuft etwas schief. Und wurde nur wenige Tage später in meinem Verdacht bestätigt, dass es in Deutschland keinen Deut anders zugeht, als ich den Wochenmarkt meiner Heimatstadt Waiblingen mal mit anderen Augen betrachtete: mit denen eines Sammlers.
Meine Mutter Katharina fand es befremdlich, als ich ihr erzählte, ich hätte Reste vom Markt mitgebracht. »Das ist doch Diebstahl«, befand sie. Ihr wäre das nie in den Sinn gekommen. Dabei ist es nicht zuletzt ihre Haltung, die mich als Kind geprägt hat. Wie viele andere, die den Krieg erlebt haben, konnte sie etwa kein Brot wegwerfen. Manchmal nervte sie mich mit ihrer aus meiner Sicht übertriebenen Sparsamkeit. Aber der Gedanke »Essen ist etwas Heiliges« war immer präsent.
In der Küche blieb nichts übrig: Brotreste wurden getrocknet und zu Semmelknödeln verarbeitet oder mit Milch zu einer Süßspeise oder mit Eiern in der Pfanne gebraten – wir Kinder liebten das »Eierbrot«. Auch im Garten gab es immer eine Verwendung für die Reste. Zum Beispiel bei der Pflaumenernte, wir hatten drei verschiedene Körbe: einen für die festen, noch haltbaren, einen für die essreifen und einen für die leicht angefaulten – aus denen man aber noch Schnaps brennen konnte. Das gleiche Spiel beim Kirschbaum. Vor allem das Entkernen haben wir Kinder gehasst. Anschließend wurden wir entlohnt: mit einem köstlichen Topfenstrudel mit Kirschen. Mir läuft heute noch das Wasser im Mund zusammen.
Wenn wir Kinder mal wieder unsere Teller nicht leer essen wollten, mahnte meine Mutter uns mit den Worten: »Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie das hätten.« Wir lachten sie aus, wie sollten denn unsere Brötchen nach Afrika kommen, die würden doch unterwegs verderben! Heute weiß ich, dass Mutter eine geradezu prophetische Gabe hatte. Damals begann die verhängnisvolle Entwicklung, dass afrikanische Länder immer abhängiger vom Weltmarkt wurden und sich immer weniger selbst ernähren konnten. Was dazu geführt hat, dass wir heute tatsächlich vom gleichen globalen Teller essen!
Wenn mal ein Teller dennoch nicht leer wurde – Mutter hat ihn immer leer gegessen. Wir haben sie dafür als den »Kuttereimer der Familie« veräppelt – so heißt auf gut Schwäbisch der Mülleimer. Damals war mir das alles unverständlich. Ich fand es eher abstoßend. Wir wehrten uns zunehmend gegen die aufgebratenen Nudeln – teilweise mit Erfolg.
Altes Brot wegwerfen hätte meine Mutter als Sünde betrachtet. Ich habe erst lange Jahre später verstanden warum. Sie hatte uns Kindern nie erzählt, wie existenziell ihre Erfahrung von
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