Wirklichkeit an oder die Wirklichkeit der Überzeugung. Da Politiker nur selten ihr Parteibuch wechseln, ist der zweite Fall die Regel. Man stellt die Dinge so dar, dass sie ins eigene Weltbild passen. Dessen Zweck ist einem wichtiger als die wandelbare Welt. Der Politiker sagt den Menschen nur das, was seinem Ziel nützt. Dabei laufen Mikrofone, wird mitgeschrieben. Der Text wird mit der Wirklichkeit verglichen, und oft genug wird der Widerspruch offenbar: Der Politiker hat gelogen.
Im Fall Europa und Euro klaffen Wunschvorstellung und Wirklichkeit schon lange auseinander. Deshalb versuchen Politiker mit allen Mitteln, den Abgrund, der sich zwischen ihrer leidenschaftlichen Überzeugung und den deprimierenden Fakten aufgetan hat, mit Worten zu füllen. Sie lügen zu einem Zweck, den sie für einen guten halten, aber Lüge bleibt Lüge. Solange ich lebe, habe ich Politiker beim Lügen ertappt. Doch niemals so viele auf einmal, die alle mit der Unwahrheit hausieren gingen. Das mag auch daran liegen, dass schon die Entstehung der Einheitswährung und der Beitritt neuer Kandidaten von Anfang an Schwindel waren. Der Zweck, den Euro zu etablieren, so scheint es, hat alle Mittel geheiligt.
In einem Buch, das vom großen Euro-Schwindel handelt, lässt sich das Wort »Lüge« deshalb nicht vermeiden. Bei den Akteuren – von den Konstrukteuren der Hilfspakete und den Hinterbänklern, die blind dem Rettungsschirm zustimmen, bis zur Regierung, die den Beschluss durchs Parlament peitscht – werde ich mir damit keine Freunde machen. Andrerseits: Wer möchte schon jemanden zum Freund haben, der in einem Buch über die Euro-Lügner vorkommt?
Allerdings wird der Leser im Buch selbst vergeblich nach dem Wort »Lügner« oder »Lügnerin« suchen. Jemanden persönlich des Lügens zu bezichtigen, ist ein harter Vorwurf, der einen schnell vor den Richter bringt. Deshalb stelle ich dem Leser anheim, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und dieses Wort dort einzusetzen, wo ich selbst zurückhaltender formuliert habe. Mir scheint die Sache ohnehin so klar, dass es dieses Wortes überhaupt nicht mehr bedarf.
Während ich an diesem Buch schrieb, ist mir immer wieder ein Bonmot Friedrich Nietzsches durch den Kopf gegangen: »Der Fantast verleugnet die Wahrheit vor sich, der Lügner vor anderen.« In welche Kategorie er gehört, mag jeder unserer euroverliebten Politiker und Medienvertreter selbst entscheiden.
Hans-Olaf Henkel
Berlin, Juli 2013
PS: Gern können Sie mir eine E-Mail mit Ihrer Meinung senden:
[email protected] * Man findet die Argumente zusammengefasst in meinem Buch Rettet unser Geld! , 2010 bei Heyne erschienen.
KAPITEL EINS
Die Profis der Täuschung
1. Jean-Claude Juncker
Die Ehre, das Lügen in der Politik offiziell zur Staatskunst erhoben zu haben, kommt nicht zufällig dem Mann zu, der den Spitznamen »Mister Euro« trägt: Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, der im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends im großen Euro-Theater die Hauptrolle spielte. Natürlich wurde schon vorher gelogen, vermutlich solange es Politiker gibt, laut Bibel sogar, solange es Menschen gibt. Aber es gab keinen, der sich wie der langjährige Chef der Euro-Gruppe hinstellte und nicht ohne leisen Stolz sinngemäß sagte: Hier lüge ich, ich kann nicht anders.
Dass Politiker lügen, ist ja nichts Neues. Aber sie haben es entweder nie zugegeben oder sind, wenn überführt, zurückgetreten. Das ist guter demokratischer Brauch. Juncker hat genau das Gegenteil gewagt. Er hat die Lüge salonfähig gemacht. Denn ohne sie, das wusste er, wäre der Euro nie entstanden und auch in der Gegenwart nicht mehr zu retten.
Wenn man ein politisches Ziel nur erreichen kann, indem man lügt, dann muss es um dieses Ziel, in diesem Fall den Euro, schlecht bestellt sein. Doch mit stillschweigender Berufung auf den Zynikerspruch, dass der Zweck die Mittel heilige, hat Jean-Claude Juncker offen zugegeben, was sonst vertuscht wird. Ja, ich lüge. Und warum lüge ich? Weil es um das Überleben des Euro geht.
Natürlich hat es der brillante Redner, schlaue Verhandler und Träger unzähliger internationaler Preise nicht mit exakt diesen Worten gesagt. Aber vermutlich exakt das gemeint. Bei einer Finanztagung in Brüssel im Mai 2011 erklärte er ganz offen: »Wenn es ernst wird, muss man lügen.« Da die europäische Politik, in der Wohl und Wehe von Hunderten Millionen Bürgern auf dem Spiel stehen, immer eine ernste Angelegenheit ist,