Die Evangelistin
damals war ich acht Jahre alt. Sobald Savonarola tot und der Gottesstaat abgeschafft war, beschloss die Republik erneut, die Juden auszuweisen. Mein Vater sagte sich, dass es selbst für eine wohlhabende Familie wie die Halevis den Ruin bedeuten würde, wenn wir uns immer wieder freikaufen mussten, um nicht vertrieben zu werden.
Also packten wir unsere Sachen und zogen nach Padua. Nach der Eroberung der Stadt im Juni 1509 flohen wir weiter nach Venedig. Mein Vater mietete ein sehr schönes Haus in der Nähe der Kirche San Moisè, wo ich immer noch wohne – allein, denn mein Vater starb ein paar Monate später an der Pest, die in Venedig wütete, und mein Bruder Joel – er heißt jetzt Angelo – ging nach Rom.«
»Du bist ganz allein in Venedig zurückgeblieben?«, fragte ich erstaunt. »Warum bist du nicht mit ihm gegangen?«
»Weil ich in Venedig meinen Glauben leben kann. Weil es mir hier möglich ist, zum Beten in die Synagoge zu gehen. Weil ich hier frei bin. In Rom hätten mein Bruder und ich nicht zusammen in einem Haus leben dürfen – er war Converso, ich nicht. Das Judenviertel in Rom ist unerträglich eng. Im Sommer wütet die Malaria. Wenn der Tiber über die Ufer tritt, stehen die Gassen unter Wasser wie in Venedig bei Acqua alta. Nein, dort wollte ich nicht leben. Also blieb ich in Venedig.«
»Und dein Bruder?«
»Nach seiner Taufe ließ er sich zum Priester weihen. Er wohnt nun im Vatikan.« Sie warf Aron einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Was tut er dort?«
»Er ist …« Sie zögerte. Dann holte sie tief Luft. »Er ist der Sekretär des Papstes.«
»Er ist was ?«, fragte ich fassungslos.
»Angelo ist ein Vertrauter des Papstes. Die Familien Halevi und Medici sind seit Generationen befreundet … ich meine: Giovanni de’ Medici ist wie sein Vater Lorenzo il Magnifico der jüdischen Kultur gegenüber sehr aufgeschlossen. Papst Leo schätzt Angelo … er vertraut ihm …« Sie hielt den Blick gesenkt, als sie mir die ganze Wahrheit offenbarte. »Er hat meinen Bruder zum Erzbischof ernannt.«
Stöhnend barg ich mein Gesicht in den Händen.
Mein Bruder wollte eine Christin heiraten, die konvertiert war, um ihrem Bruder einen kometenhaften Aufstieg im Vatikan zu ermöglichen! Und als Erzbischof war er der Vertraute des Papstes!
Wenn Aron Marietta in San Marco oder, wie er mir vor einigen Tagen angedroht hatte, in San Pietro heiratete, würden wir nicht mehr länger als Juden leben können.
Und ein noch viel erschreckenderer Gedanke durchzuckte mich: Wusste Angelo, der Aron und Marietta an Weihnachten nach christlichem Ritus trauen wollte, dass David, Aron und ich uns in Portugal hatten taufen lassen? Dass ich der Sekretär des Erzbischofs von Granada gewesen war? Dass ich nach seinem Tod durch die spanische Inquisición angeklagt worden war? Dass ich mir in Córdoba mit Kardinal Cisneros erbitterte Wortgefechte geliefert hatte? Dass der Großinquisitor meine Frau und meinen Sohn auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte, um meinen Willen zu brechen? Dass wir nach Venedig geflohen waren? Dass wir Conversos waren, die nun wieder als Juden lebten?
Und wenn er das alles wusste, durfte er dem Papst gegenüber schweigen? Die Familie Ibn Daud war für seine Karriere als Kirchenfürst ebenso gefährlich wie es der Sekretär und Vertraute Papst Leos für uns war.
Die Leiden waren noch nicht vorbei. Sie würden niemals vorbei sein. Adonai, warum tust Du uns das an? War das Opfer an jenem Karfreitag noch nicht groß genug?
Celestina hatte tröstend meine Hand ergriffen. Sie spürte, was in mir vorging. Wir liebten uns wie Aron und Marietta. Wir aßen, tranken und schliefen miteinander und brachen jedes Gebot des vierten Laterankonzils. Und was noch viel schwerer wog: Wir arbeiteten zusammen an der hebräischen Übersetzung der Evangelien und an der Erschaffung des Verlorenen Paradieses.
Alle Blicke waren auf mich gerichtet.
Aron sah mich erwartungsvoll an. Was würde ich nun sagen, nachdem ich vor drei Tagen meinen Segen zu seiner Verlobung gegeben hatte? David war wie vom Donner gerührt. Judith rang mit den Tränen. Esther hielt den Blick gesenkt. Und mein Freund Jakob? Fassungslos wich er meinem Blick aus.
Durfte ich meinen Bruder verdammen? Nein! Und doch musste ich es tun, auch wenn unsere Familie an dieser Entscheidung zerbrach. Was sollte ich sagen, was tun?
»Ich würde Angelo gern kennen lernen, wenn er an Weihnachten nach Venedig kommt«, presste ich schließlich hervor. »Ich denke,
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