Die Evangelistin
legitimieren«, erklärte ich. »Er entstammte der Dynastie Davids und Salomos. ›Und Jakob zeugte Joseph, den Gemahl der Mirjam, die Jeschua gebar.‹«
»Joseph war also königlicher Abstammung«, schloss sie. »Er war ein Davidssohn wie Jeschua … ein Thronanwärter aus der Dynastie der Ben Davids … ein möglicher Messias … O mein Gott! Ein Freiheitskämpfer? Ein Zelot!«
Ich nickte. »Ich glaube, dass Jeschua geboren wurde, als Joseph mit seiner hochschwangeren Frau auf der Flucht war. Es gab keine wundervolle Geburt des Messias in Betlehem, der Stadt Davids, keinen hellen Stern, der den drei Weisen den Weg zum König Israels wies, keine Engel des Herrn.
Die frommen Legenden von der Geburt in einem Stall, von der Krippe, von Ochs und Esel und den Schafhirten, die sich nicht in den vier Evangelien finden, scheinen der Wahrheit näher zu kommen: Die Flucht musste unterbrochen werden, als Mirjams Wehen einsetzten.
Als Jeschua mit zwölf Jahren den Tempel besuchte, lebte Joseph noch. Nach der Bar-Mizwa seines Sohnes verschwindet er aus den Evangelien. Wir erfahren nichts mehr von ihm – nicht einmal von seinem Tod. Warum wohl?«
»Was glaubst du?«, fragte Celestina atemlos.
»Ich glaube, dass Joseph ha-Zaddik – Joseph der Gerechte, so wurde er von Matthäus genannt – wie viele tausend andere Juden während des Aufstandes von Jehuda dem Galiläer als Märtyrer an einem römischen Kreuz starb. Flavius Josephus berichtete im Jüdischen Krieg über die Revolte und die anschließenden Massenkreuzigungen der Widerstandskämpfer.
Ein Zaddik ist ein frommer Jude, der nach dem Gesetz Gottes lebt: ›Wenn du in das Land kommst, das dir der Herr, dein Gott, geben wird, so sollst du den zum König über dich machen, den der Herr, dein Gott, erwählen wird. Du darfst keinen Fremden zum König über dich machen.‹ Dieses Königsgesetz machte es Joseph ha-Zaddik unmöglich, sich mit der römischen Herrschaft abzufinden. Er musste die Römer bekämpfen, bis zu seinem Tod. Tragisch ist, dass Joseph zweimal starb: das erste Mal am Kreuz, das zweite Mal, als die Evangelisten ihn totschwiegen.«
»Du hast Recht«, nickte Celestina. »Durch den Kreuzestod seines Vaters wird Jeschuas Geschichte tragischer. Und glaubwürdiger!«
Als ich ihr darlegte, dass die Geburt* in Betlehem, der Besuch der drei Weisen, der Kindermord auf Befehl des Herodes, die Flucht nach Ägypten und die Rückholung nach Nazaret durch den Engel nur dramatische Konstruktionen der Evangelisten waren, nickte sie nur still – denn ›Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten verkündet hat‹.
Die Zeit des Abendgebets in der Synagoge war längst vorüber, als ich die Gondel durch den Canal Grande ruderte und in den schmalen, dunklen Rio di San Salvadòr einbog.
Arm in Arm waren Celestina und ich die mit Rosenblüten bedeckten Treppen hinabgestiegen, als sie mich zum Landungssteg begleitete.
Tristans Rosen.
Warum hatte Celestina Alexia nicht gebeten, die welkenden Blüten zu entfernen?
In Gedanken versunken machte ich die Gondel fest und kletterte mit dem Tallit über der Schulter auf den Steg gegenüber dem Konvent San Salvadòr. Dann folgte ich der schmalen Gasse zur Synagoge. Ich wollte einen Augenblick allein sein, mich besinnen und das Abendgebet nachholen.
Langsam stieg ich die Stufen zum Gebetssaal hinauf.
Und hielt inne.
War da nicht ein Geräusch gewesen?
Die Zeit des Abendgebets war doch längst vorüber!
Atemlos lauschte ich.
Eine Stimme, die leise Italienisch sprach!
Wer war im Gebetssaal? Alle Sefardim, die in dieser Synagoge beteten, sprachen Arabisch oder Spanisch, nicht aber Italienisch!
War mir jemand gefolgt, als ich die Ca’ Tron verließ?
Lautlos schlich ich die Stufen empor, schob das Portal zum Gebetssaal auf und blieb im Schatten stehen.
Das Ewige Licht vor dem Tora-Schrein tauchte den Saal in seinen goldenen Schein. Zwei Menschen standen mit dem Rücken zu mir vor dem Schrein. Der Mann hatte die Hand der jungen Frau ergriffen.
»… und mit diesem Ring bekenne ich dir meine Liebe. Ich will dich lieben und ehren, ich will bei dir sein und dich niemals verlassen, bis ans Ende aller Tage«, sagte er auf Italienisch.
Es war Aron!
Marietta ergriff die Hand meines Bruders und steckte ihm den Verlobungsring an. »Aron, mein Liebster, nimm diesen Ring als Zeichen meiner innigen Liebe. Ich werde dich lieben, in den Zeiten des Glücks und in den Zeiten des Leids. Nur der Tod
Weitere Kostenlose Bücher