Die Evangelistin
war er derselben Meinung!
»Und wohin ging Mirjam?«, fragte ich ihn schließlich.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Eine alte Legende aus Frankreich erzählt, dass Mirjam nach der Kreuzigung mit ihrer Tochter nach Frankreich gesegelt und beim Dorf Saintes-Maries-de-la-Mer im Rhône-Delta an Land gegangen ist. Nachdem sie das Evangelium in der Provence verkündet hatte, lebte sie dreißig Jahre lang in einer Höhle nahe Marseille. Ihre sterblichen Überreste sollen nun in Vézelay begraben liegen.
Aber das ist nur eine fromme Legende. Denn warum hätte Mirjam nach Gallien fliehen sollen? Oder nach Ephesos?« Elija lächelte wissend. »Nein, es war alles ganz anders …«
»Was glaubst du?«, fragte ich gespannt.
»Dass Mirjam bis zu ihrem letzten Atemzug bei ihrem Gemahl Jeschua blieb. Jeschua und Mirjam müssen sich sehr geliebt haben.« Elija küsste mich zart. »So wie ich dich liebe!«
Wird er kommen?, fragte ich mich zum hundertsten Mal an diesem Abend und blickte erwartungsvoll zum Portal hinüber.
In diesem Augenblick rauschte Zaccaria Dolfin in der langen Seidenrobe eines Savio Grande in den großen Empfangssaal des Palazzo Ducale. Antonio, der neben Domenico, Tristan und mir stand, winkte ihn zu uns herüber.
Meine Finger krampften sich um das Buch meines Vaters, das Menandros in den letzten Tagen kopiert hatte.
Hatte ihn im letzten Augenblick der Mut verlassen? Lange hatte er gezögert, als er die Einladung des Dogen gelesen hatte. »Wie wird der Patriarch reagieren? Und der Kardinal?« Aber seine größte Furcht sah ich nur in seinen Augen schimmern: Was wird Tristan sagen? Doch als ich ihm meinen Plan erläutert hatte …
Er wird kommen!, beruhigte ich mich selbst. Er hat es mir versprochen!
Unruhig fuhr ich mir über das schweißnasse Gesicht. Die Nacht war schwül. Obwohl die großen Fenster des Saals geöffnet waren, brachte der Wind von der Lagune keine Abkühlung.
Zaccaria Dolfin drängte sich durch das wogende Meer der schwarzen, blauen und purpurnen Seidenroben der Würdenträger der Republik und ihrer Gemahlinnen, trat zu uns und begrüßte mich mit einem galanten Handkuss.
»Celestina, meine Liebe! Auf dem Weg zum Dogenpalast habe ich die Venus am Abendhimmel vermisst«, säuselte er. »Ihr seid der hellste Stern an Venedigs Firmament. Wie schön, dass Ihr mit Eurem Liebreiz den Abend erleuchtet.«
Ich lachte, als amüsierte mich sein Kompliment. »Mein lieber Zaccaria! Ich freue mich auch, Euch zu sehen!«, log ich ihm mit einem charmanten Lächeln ins Gesicht.
Seit meiner Rückkehr aus dem Exil in Athen hatte ich gelernt, meine wahren Gefühle hinter einem strahlenden Lächeln zu verbergen.
Zaccaria wandte sich ab, um seinen Freund Antonio auf beide Wangen zu küssen. Kardinal Domenico Grimani begrüßte er durch einen ehrerbietigen Kniefall mit Kuss des Rings.
Für Tristan in der langen schwarzen Seidenrobe der Dieci hatte Zaccaria nur einen verächtlichen Blick übrig. Mein Geliebter stand so dicht neben mir, dass ich spüren konnte, wie er die Muskeln anspannte und unter den langen Ärmeln die Fäuste ballte. Wie sehr sie sich hassten!
Ich hakte mich bei Tristan ein, um zu verhindern, dass er auf Zaccaria losging.
Mein Cousin, dem der Blickwechsel nicht entgangen war, verzog die Lippen.
Antonio, du verdammter Intrigant!, dachte ich wütend. Und zum ich weiß nicht wievielten Mal fragte ich mich, ob meine Entscheidung und meine Bitte an Leonardo richtig gewesen waren. Es war ein gewagtes Spiel! Aber ich brauchte jeden Verbündeten, den ich gewinnen konnte. Und der, den ich mir erwählt hatte, war einer der mächtigsten Männer Venedigs. Ein Prokurator von San Marco. Und vielleicht in einigen Jahren der nächste Doge. Tristan würde zornig sein, weil er annehmen musste, dass ich ihn verriet.
Mit einem fröhlichen »Welche Verschwörung gegen die Republik Venedig wird hier ausgeheckt?« stürzte sich Zaccaria Dolfin in die Unterhaltung, die mein Cousin Antonio mit Kardinal Domenico Grimani, Tristan und mir führte.
»Wir sprachen gerade über den Prozess der Dieci gegen den Converso Salomon Ibn Ezra«, erklärte der Kardinal dem Savio Grande. »Der Prozess ist abgeschlossen, aber Signor Venier sagte gerade eben, dass die Dieci noch kein Urteil gefällt hätten.«
Zaccaria sah Tristan in die Augen, nahm ein Kristallglas mit Wein, das ein Diener ihm reichte, prostete seinem Erzfeind zu. »Auf ein gerechtes Urteil! Und auf die Republik
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