Die Evangelistin
Venedig!«, murmelte er verächtlich und leerte das Glas in einem Zug.
Tristans Faust verkrampfte sich um sein Weinglas. Nur mühsam konnte er sich beherrschen.
Unruhig sah ich zum Portal hinüber. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er endlich kam. Und dass dieser Abend nicht in einer Katastrophe endete!
Mein Blick irrte durch den Empfangssaal. Antonio Grimani lehnte in seiner prächtigen Prokuratorenrobe am Thron des Dogen und unterhielt sich angeregt mit Leonardo.
Ob ich jetzt mit ihm reden sollte?
Mit der Hand umklammerte ich das Buch über Megas Alexandros. Was hätte er getan, um die Schlacht zu entscheiden? Bis zum letzten Augenblick auf die Verstärkung warten, um den Kampf zu gewinnen? Oder angreifen?
Nein, ich würde noch warten.
Er wird kommen! Er wird mich nicht im Stich lassen!
Ich besann mich wieder auf das Gespräch.
»… ist es vielleicht das Beste, wenn die Juden aus Venedig ausgewiesen werden!«, sagte Zaccaria und sah mich scharf an. »Was meint Ihr dazu, Celestina?«
Sein Blick traf mich wie ein Dolch, und einen Augenblick lang fragte ich mich beunruhigt, ob ich ihm den Zettel ›So che hai fatto‹ verdankte.
Antonio beobachtete mich über den Rand seines Weinglases hinweg. Dass Tristan und ich in aller Öffentlichkeit so vertrauten Umgang pflegten, schien ihm sehr zu missfallen – sein Blick wirkte so verächtlich wie am letzten Sonntag, als ich Jakob auf der Piazza San Marco zu Hilfe gekommen war.
»Ich bin in dieser Frage derselben Meinung wie Kardinal Bessarion«, erwiderte ich.
»Wie Kardinal Bessarion?«, fragte Zaccaria verwirrt.
»Im Jahr 1463 fragte die Republik Venedig den Kardinal, ob die Juden in die Stadt gelassen werden sollten. Basilios Bessarion riet dem Dogen, den Juden einen vertraglich gesicherten rechtlichen Status zuzuerkennen. Im Gegensatz zu Kastilien und Aragón, die die Juden 1492 vertrieben, und Portugal, das 1497 dasselbe tat, ist Venedigs Haltung gegenüber der jüdischen Gemeinde mehr als kooperativ. In keinem anderen Land in Europa, nicht einmal im Osmanischen Reich, genießen die Juden so viel Freiheit wie hier.«
Zaccaria knirschte mit den Zähnen.
Eben diese Freiheit ermöglichte es Conversos wie Salomon Ibn Ezra, das Sakrament der Taufe zu leugnen und wieder als Juden zu leben!
»Und wie ist Eure Meinung zu dieser diffizilen Frage der Staatssicherheit, Euer Hoheit?«, fragte Zaccaria mit einer höhnischen Verneigung vor Tristan, als wäre mein Geliebter bereits Doge von Venedig. »Die Juden schüren seit Monaten einen Aufruhr in Venedig! Ein Funke, und der Schwelbrand wird zum alles vernichtenden Feuersturm!«
Zaccaria hatte Tristan vor einigen Tagen ›einen zweiten Cesare Borgia‹ genannt, ›der sich seinen Weg die Stufen hinauf zum Thron von Venedig mit Intrigen, Gold und Gewalt erzwingt.‹ Seine Absichten waren erschreckend eindeutig: Er wollte Tristan als Vorsitzenden der Dieci diffamieren und seinen Namen in den Schmutz ziehen.
Tristan ballte erneut die Fäuste, doch ich hielt seinen Arm umklammert.
Domenico Grimani wollte etwas einwerfen, aber Tristan unterbrach ihn mit einer Geste wie ein Schwerthieb, und der Kardinal verstummte. Beunruhigt suchte er meinen Blick.
»Ich glaube nicht, dass die Juden für die Unruhen in Venedig verantwortlich gemacht werden können«, stieß Tristan hervor. »Ganz im Gegenteil: Es sind fanatische Franziskaner wie jener spanische Mönch Fray Santángel, der täglich auf dem Rialto und vor den Kontoren der jüdischen Bankiers seine Hetzpredigten hält. Sie sind es, die die Christen immer wieder aufwiegeln.
Am Pfingstsonntag gab es erneut blutige Ausschreitungen gegen die Juden, die in ihren Synagogen ihr Wochenfest feierten. Ein jüdisches Kind starb an seinen Verletzungen, obwohl der Medicus David Ibn Daud eine Nacht lang verzweifelt versucht hatte, sein Leben zu retten.«
Tristan holte tief Luft, dann fuhr er fort:
»Ohne die jüdische Gemeinde, die pünktlich ihre Steuern zahlt, ohne den besonnenen jüdischen Gemeindevorsteher Asher Meshullam und ohne reiche jüdische Bankiers wie sein Bruder Chaim Meshullam oder Aron Ibn Daud, die der Republik immer wieder große Kredite gewähren, wäre der wirtschaftliche Ruin und damit auch die militärische Niederlage der Serenissima nicht mehr aufzuhalten.
Als Savio Grande wisst Ihr, dass Venedig kein Geld mehr hat, um diesen endlosen Krieg länger durchzuhalten. San Marco liegt am Boden, und ohne die rettende Hand der Juden können wir uns
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