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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Mitternacht war Tristan in meinen Armen eingeschlafen. Im Mondlicht betrachtete ich sein Gesicht neben mir auf dem Kissen und strich ihm über das Haar.
    Ich entsann mich all der schönen Dinge, die wir gemeinsam getan hatten. Die Bootsfahrt durch die nebelige Lagune. Unser Liebesspiel in der schwankenden Gondel. Das mitternächtliche Bad in der Lagune. Die Spaziergänge Arm in Arm in Chioggia und die Abendessen in Murano oder Torcello. Die wilden Ausritte auf der Terraferma. Unsere Reise nach Florenz, wo ich mir Giovanni Montefiores ägyptisches Evangelium ansehen wollte, die Liebesnächte im Palazzo Medici, wo wir als Gäste von Kardinal Giulio de’ Medici wohnten, und jene Nacht, als wir in der Capella Medici die Ringe tauschten. Tristan und ich hatten sehr viel Spaß gehabt. So viel Liebe, so viel Freude.
    Vielleicht war es das Beste, wenn ich ohne Abschied ging. Keine Worte, die unsere tiefen Gefühle ohnehin nicht ausdrücken konnten. Keine Versprechen, die wir, wenn wir uns selbst treu bleiben wollten, ohnehin nicht halten konnten. Kein Schmerz und keine Tränen.
    Um ihn nicht zu wecken, entwand ich mich vorsichtig seiner Umarmung und erhob mich. Dann kleidete ich mich leise an, ging in Tristans Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter mir und setzte mich an seinen Schreibtisch. Ich schob die geheimen Dokumente des Consiglio dei Dieci zur Seite, an denen Tristan gearbeitet hatte, während er auf mich wartete, und zog einen Briefbogen heran.
    Die Feder flog über das Papier. Meine Tränen tropften auf die Schrift und lösten die Tinte auf.
    ›Nimm den Ring zurück, Tristan! Ich entbinde dich von allen Versprechen, die du mir gegeben hast. Du bist frei. Ich liebe dich. Celestina.‹
    Dann rollte ich den Brief zusammen, zog meinen Ring vom Finger, schob das Papier hindurch, schlich in sein Schlafzimmer und legte den Ring neben ihn auf das Kopfkissen. Wenn er ihn fand, würde ich schon auf dem Weg nach Rom sein.

    Menandros erwartete mich mit den Pferden am Portal des Palastes. Schweigend ritten wir zurück zum Ponte di Rialto und überquerten den Canalazzo.
    Jahrhundertelang war Venedig eine Stadt aus Holz gewesen, deren Paläste auf Pfählen in der Lagune standen – leicht wie Schiffe auf den Wogen des Meeres. Obwohl nach ein Uhr nachts kein Feuer brennen durfte, waren immer wieder große Teile der eng bebauten Stadtsechstel ein Raub der Flammen geworden, zuletzt nach der verheerenden Explosion im Arsenale. Damals, im Jahre 1509, zwei Monate vor der Schlacht von Agnadello, in der mein Vater gefallen war, brannten die Galeeren im Arsenale und beinahe der ganze östliche Stadtteil Castello, und das Feuer drohte auf den Dogenpalast und die Basilica di San Marco überzugreifen.
    Der herrliche Palazzo meines Cousins war in jener Nacht durch die Detonation zerstört worden. Antonio, der aus einer abendlichen Sitzung des Consiglio dei Savi herbeigeeilt war, musste ohnmächtig zusehen, wie seine prächtige Ca’ Tron bis zu den Pfahlfundamenten niederbrannte.
    Es war eine furchtbare Katastrophe für Venedig gewesen, und der Verdacht, dass im Auftrag von Papst Julius ein Anschlag auf die Flottenwerft verübt worden war, konnte auch durch die Untersuchung des Zehnerrats nie ganz ausgeräumt werden. Viele venezianische Paläste waren inzwischen aus Stein, doch das Feuerverbot galt weiterhin. Und daher war es in Venedig nach ein Uhr nachts so finster wie in Dantes Inferno.
    Von der Riva del Carbon bogen wir in die Calle Loredan zum Campo San Luca ab. Kurz darauf passierten wir die Brücke über den Rio und bogen in die enge Straßenschlucht ein, die nach einigen hundert Schritten zum Campo San Angelo führte.
    Plötzlich zügelte Menandros sein Pferd.
    »Was ist?«, wisperte ich.
    »Vielleicht sollten wir einen anderen Weg nehmen«, flüsterte er beunruhigt.
    Von vorn näherten sich Schritte.
    Ein einzelner Mann, der noch spät unterwegs war. Er kam uns vom Campo San Angelo entgegen. Dann fiel das Licht des Mondes auf ihn: Er trug ein langes dunkles Gewand und über der rechten Schulter ein gefaltetes, weißes Tuch.
    Meine Finger zogen die Zügel straff. Bedeutete er Gefahr?
    »Es wäre ein Umweg, durch die Merceria und über die Piazza San Marco zu reiten. Lass uns weiterreiten, Menandros! Es ist ja nicht mehr weit!«
    Menandros ließ den sich nähernden Mann nicht aus den Augen. »Lass uns dort vorn links abbiegen – in die Gasse zur Kirche San Moisè. Das ist kein großer Umweg!«
    Ich trieb mein Pferd an, die rechte

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