Die Evangelistin
Schrein herausheben und durch den Gebetssaal tragen.«
Mein Freund war zwei Jahre jünger als ich, also siebenunddreißig. Trotz der Qualen und Demütigungen, die er in den letzten Jahren erlitten hatte, war er ein lebensfroher Mann. Seinen Glauben hatte er nie verloren, ganz im Gegenteil: Er glaubte, betete, atmete, lebte und liebte mit einem trotzigen »Jetzt erst recht!«. Wenn Gott auch Seinen Bund, den Er mit Abraham geschlossen hatte, mit Jakob gebrochen hatte – denn Er hatte ihn nicht beschützt, als er in Not war, und hatte ihn nicht getröstet, als er verzweifelte –, würde Jakob seinen Bund mit Gott nicht brechen. Wie Ijob glaubte er unbeirrt. Doch manchmal dachte ich, dass Jakob dies nur tat, um Gott zu trotzen und Ihn an Sein Versprechen zu erinnern. »Sieh her, Adonai: Im Gegensatz zu Dir bin ich gerecht. Ich halte Dein Gesetz, obwohl ich aufgrund Deiner Prüfungen nicht mehr in der Lage bin, es als Tora-Rolle durch die Synagoge zu tragen.«
Mein Freund biss sich auf die Lippen: »Als ich das Stadttor von Worms durchquerte, wusste ich nicht, wohin ich mit meinem Sohn gehen sollte. Nach Frankfurt oder Nürnberg, um dann eines Tages erneut zu fliehen? Ich hätte nach Paris gehen können. Die Sorbonne hatte mir eine Professur für Hebräisch angeboten. Oder nach Bologna. Auch dort hätte ich an der Universität lehren können. Aber ich habe mich für Venedig entschieden.«
Jakob fuhr sich über das Gesicht.
»Venedig ist das Paradies! Gemäß dem Beschluss des Consiglio dei Dieci können wir Juden wohnen, wo wir wollen – du im San Marco-Viertel, ich auf der Insel Giudecca –, denn es gibt kein Judenviertel. Wenn wir sie auch nicht besitzen dürfen, so können wir doch große Häuser mieten und müssen nicht beengt wohnen wie in den Judengassen anderer Städte. Wir können reisen. Arbeiten. Lernen. Lehren. Wir können beten und auf die Erlösung hoffen. Wir können leben. Wir sind frei.«
Die Worte »Wir sind frei« schwebten einige Augenblicke haltlos im Schweigen zwischen uns. Obwohl diese Freiheit nur eine Hoffnung war – eine Illusion? –, klang dieses »Wir sind frei« zu schön, um es Jakob wegzunehmen und zu zerstören.
Ich schwieg.
»Die jüdische Gemeinde von Venedig hat siebenhundert Mitglieder«, fuhr er fort. »Viele berühmte Gelehrte sind hier. Dein Freund Elija Halevi ist aus Padua hierhergekommen. Ich schreibe meine Bücher. Du lehrst die Humanisten. Wir haben aschkenasische und sefardische Synagogen und Talmudschulen.
Venedig ist das Zentrum des Buchdrucks in Italien. Wir können hebräische Bücher schreiben und veröffentlichen. Wir venezianischen Juden könnten das Licht in der dunklen Nacht des jüdischen Exils sein! In Venedig könnten wir so viele wundervolle Dinge tun! Aber nur, wenn sie uns nicht aus diesem Paradies vertreiben!
Elija, willst du all das gefährden, indem du dein Buch schreibst? Damit wirst du im Consiglio dei Dieci Unfrieden stiften, denn dein Buch – das Buch eines getauften Juden, eines Christen …«
Ich wollte etwas einwenden, doch er hob gebieterisch die Hand:
»Bitte, Elija, lass mich ausreden! Du bist doch getauft! Du wirst den Zehnerrat gegen dich aufbringen, weil dein Buch die römische Inquisition nach Venedig holen wird. Das werden der Doge und die Dieci zu verhindern wissen – jahrelang hat Venedig trotz Kirchenbann und Krieg den Päpsten getrotzt!
Die Consiglieri dei Dieci werden Nachforschungen über dich anstellen und herausfinden, dass der Jude Elija Ibn Daud und der Christ Juan de Santa Fé ein und derselbe Mann sind. Und sie werden von deinem Prozess in Córdoba erfahren.
Vor sechs Jahren konnte Kardinal Cisneros dich nicht hinrichten, weil du zu gefährlich warst, zu einflussreich, zu bekannt, doch hier ist Venedig, Elija, nicht Granada oder Córdoba.«
»Ich will das Paradies nicht zerstören, Jakob«, erwiderte ich. »Meine Heimat Granada habe ich verloren. Hier in Venedig will ich das verlorene Paradies wiederfinden. Ich will etwas erreichen, was es noch nie zuvor gegeben hat: Freiheit für uns Juden und Frieden mit den Christen. Ich werde mein Buch Das verlorene Paradies nennen.«
»›Denn wen Adonai liebt, den züchtigt er wie ein Vater den Sohn, den er lieb hat‹«, hatte Jakob während der Rückfahrt aus den Spruchweisheiten König Salomos zitiert. »Der Herr liebt dich, Elija, denn er hat dich all die Qualen überleben lassen – die lange Gefangenschaft im Kerker der Inquisition, die Demütigungen, die
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