Die Evangelistin
Stuhl beinahe umgeworfen hätte, und ging einige Schritte in die Finsternis seines Arbeitszimmers jenseits des Lichtscheins der Kerzen auf dem Schreibtisch.
Jakob war nun wirklich wütend. Nicht, weil wir in diesem rabbinischen Streitgespräch unterschiedlicher Meinungen waren – denn das waren wir, ein sefardischer und ein aschkenasischer Rabbi, beinahe immer. Sondern weil er als mein bester Freund um mich besorgt war und fürchtete, dass er mich nicht von meinem gefährlichen Vorhaben abhalten konnte. Aber vor allem, weil er nicht verstand, warum ich es tun wollte. Rabbi Jakob Silberstern wollte es einfach nicht verstehen!
»Ich habe nie behauptet, dass ich die Wahrheit kenne! Ich sagte: Ich kenne die Evangelien.«
»Ein Rabbi, der die Evangelien studiert wie die Tora, als wären sie göttliche Offenbarung! Elija, warum wagst du das, nach allem, was die spanische Inquisition dir und deiner Familie in Granada angetan hat? Kardinal Cisneros hätte persönlich die Fackel auf deinen Scheiterhaufen geworfen, wenn es ihm gelungen wäre, dich zu widerlegen und damit zu unterwerfen.
Warum kannst du nach den Monaten im Gefängnis, nach Sarahs und Benjamins Tod auf dem Scheiterhaufen, nach deiner Flucht aus Granada nicht einfach schweigen? Und am Leben bleiben!«
»Weil ich so nicht weiterleben kann!« Ich fuhr mir über die Stirn, um die Erinnerungen zu verscheuchen: das Feuer des Scheiterhaufens … die lodernden Flammen … Sarahs stolzer Blick: Gib nicht auf, Elija! Ich habe es auch nicht getan. »Weil ich will, dass das, was mir geschehen ist und was Sarah und Benjamin erleiden mussten, nie wieder einem Juden geschieht, getauft oder nicht. Dass nie wieder ein Jude wie ich seinen Glauben verteidigen muss. Dass nie wieder ein Jude wie du auf offener Straße gedemütigt oder misshandelt wird. Dass nie wieder ein Jude vor einem Tribunal der Inquisición angeklagt wird, weil er seinen Glauben lebt, wie der Ewige, gepriesen sei Er, es ihm vorschreibt. Dass nie wieder ein Jude für einen Mord, an dem er unschuldig ist und der vor eintausendfünfhundert Jahren vor den Toren von Jeruschalajim begangen wurde, gefoltert, verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.«
»Und wie, verehrter Rabbi Elija ben Eliezar Ibn Daud, willst du dieses Wunder vollbringen, das einer Befreiung unseres Volkes gleichkäme?«, rief Jakob verzweifelt. »Denn das wäre die Aufgabe des Messias, und ich fürchte, er wird auch dieses Jahr nicht kommen, um die Welt zu erlösen.«
»Ich werde das Buch schreiben und …«
»Das haben Mosche ben Maimon und Shemtov Ibn Shaprut auch getan!«, fegte er meine Worte ungestüm zur Seite. »Zwei Meisterwerke von großen jüdischen Gelehrten! Zwei gewichtige Bücher mehr im Gepäck, die wir auf der Flucht vor den Angriffen der Christen mit uns schleppen. Soll ich, wenn ich das nächste Mal vor den Gojim fliehen muss, wie vor acht Jahren aus Köln und dann vor sechs Jahren aus Worms, nicht zwei, sondern drei Bücher einpacken, die mein Leben am Ende aber nicht retten können? Elija, es gibt andere Wege als die Via Dolorosa …«
»Ich werde dieses Buch schreiben«, beharrte ich, als hätte Jakob mich nicht eben gerade unterbrochen. »Ein Buch, das sich von den Werken Mosche ben Maimons und Shemtov Ibn Shapruts unterscheidet, weil es keine Rechtfertigung meines Glaubens ist, kein Führer für die Verirrten , kein Prüfstein für das Bekenntnis zu dem Einen Gott. Ich werde die Evangelien neu schreiben.«
»Elija, dafür werden sie dich kreuzigen!«, rief Jakob entsetzt.
»›Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen‹«, zitierte ich das Evangelium.
»Die Christen wollen die Wahrheit, die du verkünden willst, aber nicht hören!«, mahnte Jakob. »Sie können die Wahrheit auch nicht hören, denn das Donnern der einstürzenden Kirche wird jedes deiner Worte übertönen.«
Dann besann er sich, ließ sich auf seinen Stuhl fallen und barg das Gesicht in der nicht gelähmten Hand. Eine Weile saß er so und schwieg. Dann begann er sehr eindringlich zu sprechen:
»Ich bin auch geflohen, Elija. Nicht, wie du, vor der spanischen Inquisition, sondern vor der Verfolgung. Vor acht Jahren haben die Gojim mein Haus in Köln niedergebrannt, und ich habe beinahe meinen gesamten Besitz verloren. Zwei Jahre später haben sie mich in Worms so misshandelt, dass ich meinen rechten Arm nicht mehr gebrauchen kann. Während des Gottesdienstes kann ich die Tora nicht mehr aus dem
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