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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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lassen. Celestina würde ihm nach dem Kiddusch von unserer gemeinsamen Arbeit erzählen. Wenn er uns das Nihil obstat gab, dann fehlte uns nur noch das Imprimatur.
    Und die kirchliche Druckerlaubnis wollte sich Celestina bei ihrem Freund Giovanni de’ Medici in Rom holen. Vor kurzem hatte sie mir erzählt, dass Leo X. in den nächsten Wochen eine Bulle herausgeben wollte, die das Dekret von Papst Innozenz über die allgemeine Bücherzensur ersetzen sollte. Papst Leo wollte die Approbation von Büchern mit einem kirchlichen Imprimatur vor der Veröffentlichung durchsetzen. Celestina hatte beschlossen, nach dem Weihnachtsfest nach Rom zu reisen, um von ihm das Imprimatur zu erbitten.
    »Ich bin nicht wegen Celestina hier, sondern deinetwegen.«
    Menandros wirkte überrascht.
    »Ich will mit dir über Tristan sprechen.« Fasziniert trat ich zu der Wand mit den Ikonen. »Sie sind wundervoll.«
    »Ich dachte, euch Juden seien Bilder verboten: ›Du sollst dir kein Bildnis machen‹ – Exodus, Kapitel 20, Vers 4«, murmelte er und strich verlegen über den schwarzen Stoff seiner Soutane.
    Die zehn Gebote galten doch auch für ihn!
    »Für mich sind Ikonen keine Objekte der Anbetung«, erwiderte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. »Ich verneige mich nicht vor ihnen, ich berühre und küsse sie nicht, wie du es als orthodoxer Christ tust, wenn du betest. Für mich sind sie nicht heilig, sondern schön. Noch nie habe ich so wundervolle Ikonen gesehen.« Ich wies auf das Bildnis eines bärtigen Mannes mit lockigem Haar auf schimmerndem Blattgoldhintergrund. »Ist das Johannes der Täufer?«
    Menandros trat neben mich. »Ja.«
    »Und das ist die Theotokos, die Gottesgebärerin, die Jungfrau Maria?« Als Menandros nickte, fragte ich: »Und jener Mann mit der zum Segen erhobenen Hand ist Iesous Christos?«
    »Ja, das ist Er.« Menandros nahm die Ikone von der Wand und küsste sie andächtig. Dann gab er sie mir, damit ich sie betrachten konnte.
    Dieser Christos entsprach keiner der Regeln der Malerei, weder denen der venezianischen Ölmalerei des Giovan Bellini oder Tizian Vecelli noch denen griechisch-orthodoxer Ikonen. Dieser Christos war außergewöhnlich! Er war kein auf den Wolken thronender Weltenrichter. Er blickte dem Betrachter mit einem gütigen Lächeln in die Augen, als ob er ihn im nächsten Moment ansprechen wollte: ›Mein lieber Bruder …‹
    In diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie sehr Menandros seinen Gottessohn liebte und welche Seelenqualen ihm meine Arbeit mit Celestina zufügen musste. Ich riss seinen Glauben in Fetzen, die, wie ich vor einigen Tagen zu meinem Freund Jakob gesagt hatte, niemand mehr als Evangelium bezeichnen konnte.
    »Es sind sehr kostbare Bilder mit teuren Farben wie Lapislazuliblau, Purpurrot und Blattgold«, sagte ich bewundernd und gab ihm das Bildnis zurück. »Wer hat sie gemalt?«
    »Ich«, murmelte er verlegen und presste Iesous Christos liebevoll an seine Brust.
    Ich spürte, dass ihn ein Geheimnis umgab.
    Sein Blick irrte über meine Schulter hinweg zum Tisch, der vor dem Fenster stand. Erst jetzt bemerkte ich im Dämmerlicht die Schälchen mit Farben, die feinen Pinsel, das Blattgold und die Ikone, an der er offenbar noch bis Sonnenuntergang gearbeitet hatte. Wen malte er? Ich konnte die Figur im diffusen Abendlicht nicht erkennen.
    Menandros wurde plötzlich unruhig. »Ich habe in Istanbul Bücher kopiert und illustriert, um das Geld für mein Studium zu verdienen.« Dann wechselte er rasch das Thema. »Du möchtest mit mir über Tristan reden. Wollen wir uns nicht setzen?« Er wies auf zwei Sessel und hängte die Ikone wieder an die Wand.
    Während ich es mir bequem machte, warf Menandros betont lässig ein Tuch über die begonnene Ikone. Das Blattgold wirbelte auf und wehte wie Herbstlaub zu Boden. Warum wollte er das Bild vor mir verstecken?
    Dann füllte er zwei Kristallgläser mit Rotwein und reichte mir eines. »Wein von der Insel Chios.«
    Der Wein war nicht koscher, doch ich nahm ihn trotzdem, um Menandros nicht zu kränken.
    Er setzte sich mir gegenüber.
    »Tristan erzählte mir, dass du am letzten Sonntag ein sehr ernsthaftes Gespräch mit ihm geführt hast«, begann ich.
    »Das stimmt.«
    »Er sagte, du hättest ihm erzählt, dass wir an einer Übersetzung der griechischen Evangelien arbeiten. Und dass unsere Zusammenarbeit sehr … wie nanntest du es? … sehr intensiv sei. Tristan schien zu wissen, dass Celestina und ich uns lieben. Was hast du ihm

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