Die Evangelistin
Welcher Familie in Istanbul entstammst du? Ich kenne nicht einmal deinen Familiennamen …«
Er ließ sich in die Kissen sinken und dachte nach, als müsse er erst überlegen, was er mir erzählen wollte und was nicht.
»Ich trage ihn nicht mehr«, murmelte er schließlich. »Ich bin nur noch Menandros.«
»Warum hast du deinen Namen abgelegt?«
»Weil ich nur ich selbst sein wollte – der Mensch, den ich selbst erschaffen hatte. Kein Name. Kein Titel.« Er holte tief Luft. »Ich bin Menandros Palaiologos.«
Für einen Augenblick war ich sprachlos: Vor der Eroberung von Konstantinopolis durch die Türken waren die Palaiologoi die letzte byzantinische Kaiserdynastie gewesen.
Wenn Menandros die Wahrheit so sehr liebte, warum umgab er sich mit dem undurchdringlichen Schleier des Geheimnisses?
»Bisher habe ich nur Celestina von meiner Herkunft erzählt – nachdem sie mich auf dem Sklavenmarkt in Alexandria freigekauft hatte. Tristan hat keine Ahnung, wer ich wirklich bin: Er hält mich für einen Priester, der Mönch werden wollte, für Celestinas Sekretär und vertrauten Freund.«
Dann begann er seine Geschichte zu erzählen:
»Von 1259 bis zur türkischen Eroberung hatte meine Familie das Byzantinische Reich regiert. Um zu verstehen, was in den letzten Jahren vor dem Fall von Konstantinopolis im Mai 1453 geschah, musst du wissen, wer die Kaiser waren.
Byzanz wurde von Iesous Christos regiert. Die Goldmünzen zeigten ihn mit der Kaiserkrone und dem Prachtgewand des Basileus. Neben dem Thron des Herrschers stand ein weiterer leerer Sessel, auf dem das geöffnete Evangelion lag – das war der Thron von Christos, dem wahren Herrscher von Byzanz.
Jahrhundertelang gab sich der Basileus als Iesous Christos. Er residierte in Palästen, die so prächtig waren wie Kathedralen. Das Hofzeremoniell war Liturgie. Wie Christos auf den Ikonen kleidete sich der Basileus in ein Gewand, das mit Perlen und Edelsteinen reich bestickt war. Am Ostersonntag erschien er mit totenbleich geschminktem Gesicht, den Körper in ein Leichentuch gehüllt, umgeben von zwölf Aposteln.
Der Basileus war der Messias, der Fleisch gewordene Sohn Gottes. Was er berührte, war geweiht. Der Glaube Roms war Häresie, der römische Papst ein Ketzer. Die Idee Rom lebte in Byzanz weiter: Von jeher haben wir uns als Romanoi bezeichnet, als Römer, als Erben des Imperium Romanum.«
Menandros bemerkte, dass mein Glas leer war, holte die Karaffe und schenkte mir nach. Dann nahm er wieder Platz.
»Die Geschichte meiner Familie begann, als Konstantinopolis im April 1204 durch das Kreuzfahrerheer des venezianischen Dogen Enrico Dandolo erobert wurde. Es gab ein furchtbares Massaker. Die Stadt wurde geplündert und zerstört. Unser Hass auf die Venezianer war grenzenlos.«
»Und doch bist du in Venedig«, warf ich ein.
»Venedig war länger byzantinisch als Byzanz venezianisch – Enrico Dandolo regierte nur ein Jahr in Byzanz«, lächelte er sarkastisch. »San Marco erinnert mich an die Hagia Sophia. Die bronzene Pferde-Quadriga über dem Portico ist 1204 aus dem Hippodrom gestohlen worden. Auch die prächtige Pala d’Oro, der Altar von San Marco, und die Tetrarchen-Figuren an der Fassade stammen aus meiner Heimatstadt. Du siehst, Elija: Ich kann mich in meinem Exil wie zu Hause fühlen.
Nach der Eroberung durch die Kreuzfahrer zerfiel das Byzantinische Reich. Ein Lateinisches Reich wurde in Konstantinopolis errichtet, und der Basileus floh nach Nikaia, das heute Iznik heißt. Die Zeit der lateinischen Regentschaft war die Hölle auf Erden. Uns erging es wie euch Juden, als die Babylonier den Tempel in Jerusalem zerstörten. Heilige Reliquien wurden aus den Kirchen fortgeschleppt.
Im Jahr 1259 wurde Michael VIII . Palaiologos Kaiser in Nikaia. Zwei Jahre später eroberte er Konstantinopolis zurück. Die Dynastie der Palaiologoi kämpfte zweihundert Jahre lang gegen den sicheren Untergang. Die Türken bedrohten die Grenzen des Reiches, rückten immer weiter vor und standen schließlich ante portas: 1422 belagerte Sultan Murad die Stadt.
Ein muslimisches Byzanz war nur noch eine Frage der Zeit. Die Hagia Sophia würde eine Moschee sein! Der Kaiserpalast die Residenz des Sultans! Nicht mehr Iesous Christos, sondern der Prophet Mohammed wäre Basileus!
In seiner Verzweiflung suchte Ioannis VIII . Palaiologos Hilfe im Westen – trotz des Schismas von 1054 und der Eroberung durch die Venezianer. Im Jahr 1438 reiste Kaiser Ioannis nach Italien, um
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