Die Evangelistin
Papst Eugenius IV . – ein Venezianer übrigens! – während des Unionskonzils in Florenz um militärische Unterstützung gegen die Türken zu bitten. Dafür war der Basileus bereit, einer Union zwischen der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche zuzustimmen. Kaiser Ioannis und Papst Eugenius unterzeichneten 1439 die Unionsbulle, aber letztlich wurde sie von den orthodoxen Bischöfen abgelehnt. Während der letzten Tage des Jahres 1452 – wenige Wochen vor der Eroberung durch die Türken – fand in der Hagia Sophia eine feierliche Zeremonie statt, die das Schisma beendete. Aber das viel zu große Opfer, die Unterwerfung unter den Papst, war vergeblich gewesen!
Im Mai 1453 fiel die Stadt. Der letzte Kaiser, Konstantin XII . Palaiologos, fiel im Kampf, als die Türken nach monatelanger Belagerung die Mauern überrannten und jeden niedermachten, der sich ihnen in den Weg stellte. Drei Tage lang wüteten die Eroberer in der Stadt, töteten, vergewaltigten, plünderten und zerstörten das tausendjährige Byzantinische Reich. Der Basileus war tot. Christos war nicht mehr Herrscher.
Mein Großvater war damals zehn Jahre alt. Als ich ein Kind war, hat er mir erzählt, was in jenen Tagen geschehen war.
Sein Vater Andronikos, ein Cousin des Kaisers, hatte sich mit ihm in die Hagia Sophia geflüchtet, wo eine Messe gehalten wurde, um Gottes Beistand gegen die türkischen Barbaren zu erflehen. Als die Eroberer die Kirche stürmten, schlachteten sie die Gläubigen ab, als verlange Allah blutige Menschenopfer. Sie plünderten die Kirche: Geweihte Gefäße aus Silber und Gold, mit Perlen und Edelsteinen besetzt, kostbare Priestergewänder, Ikonen, Reliquien von Märtyrern, sakrale Gegenstände – alles wurde weggeschleppt, geschändet oder zerstört. Mein Urgroßvater Andronikos, der Cousin des Basileus, fiel dieser sinnlosen Raserei zum Opfer, aber meinem Großvater gelang die Flucht.
Wie oft hat er mir von diesen Tagen berichtet! Er sagte: ›Die Plünderung von Konstantinopolis und die Entweihung der Hagia Sophia werden nur noch durch die Zerstörung von Jerusalem und des jüdischen Tempels durch die Römer übertroffen.‹
Und er erzählte mir von der Legende, dass während jener letzten Messe in der Hagia Sophia, als die Ungläubigen in die Kirche eindrangen, sich die Wand hinter dem Altar öffnete und der Priester mit dem Abendmahlskelch verschwand. Hinter ihm schloss sich die Mauer wieder. Wenn eines Tages ein orthodoxer Herrscher die christliche Messe in der Hagia Sophia feiert, dann wird sich eben diese Mauer auftun, der Priester wird mit dem Abendmahlskelch erscheinen und die unterbrochene Messe beenden.«
Menandros seufzte aus tiefstem Herzen.
»Mein Großvater erzählte die Legende immer so, als wäre dieser Herrscher ein Mitglied unserer Familie. Als erwarte er von mir, dass ich Byzanz zurückerobere und Christos wieder zum Basileus mache.«
»Hast du den Namen Palaiologos deshalb abgelegt?«
»Ich bin nicht der Messias«, erwiderte er knapp. Offenbar wollte er nicht näher darauf eingehen. »Meine Kindheit war nicht glücklich. Mein Vater Demetrios und meine Mutter Sophia zerrten ständig an mir herum, um mich nach ihrem Idealbild zu formen.
Als ich sechs Jahre alt war, schenkte mir mein Vater ein Holzschwert und erzählte mir die Geschichte vom Basileus Michael, der Byzanz zurückerobert hatte. Während andere Kinder spielten, lernte ich zu kämpfen. Und zu siegen! Darauf legte Demetrios Palaiologos allergrößten Wert. Wenn ich das Schwert ungeschickt führte oder während des Galopps vom Pferd fiel und nicht sofort wieder aufsprang, schlug er mich und sperrte mich in mein Zimmer. Wie ich meinen Vater hasste!«, stieß Menandros verbittert aus.
»Ich erinnere mich an einen Weihnachtsabend … Meine Eltern, meine drei Brüder und meine beiden Schwestern saßen beim feierlichen Abendessen, das nach dem strengen Hofzeremoniell ablief – ein letztes, krampfhaftes Festhalten an einer glorreichen Vergangenheit. Niemand sprach ein Wort. Niemand klapperte mit den Tellern, dem Besteck oder den Weingläsern. Niemand wagte es, sich wie ein Mensch zu benehmen: zu scherzen, zu lachen, das Festmahl und den Wein zu genießen.
Alexandros, mein jüngerer Bruder, stieß während des Essens sein Weinglas um. Mein Vater wies ihn so scharf zurecht, dass der elfjährige Alexandros in Tränen ausbrach. Als ich es wagte, ihn zu verteidigen, brach der Zorn meines Vaters mit unerbittlicher Gewalt über
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