Die Evangelistin
jene Pilger, die zum Tempel strömen, denn nun wirklich?
Sie singen: ›Errette uns von den Römern!‹ Mit anderen Worten: Gib dem Caesar, was dem Caesar gehört, und gib Gott zurück, was Gott gehört. Israel gehört Adonai, also befreie es, König Jeschua. Ehre deinen großen Namen ›Jeschua – Gott errettet‹ und schick die römischen Legionen zurück nach Rom!«
»Aber bis zu seinem Einzug nach Jerusalem hat Jeschua sich doch selbst nie als Maschiach, als König der Juden, proklamiert!«
Auf Elijas »Ach nein?« starrte ich ihn einen Atemzug lang an, dann fragte ich: »Dann war Jeschua also doch der Maschiach?«
In die atemlose Stille platzte Alexia.
Verlegen stand sie in der Tür. »Bitte verzeiht die Störung! Ein Mann ist gekommen, der mit Rabbi Elija sprechen will.«
»Mit mir?«, fragte er verdutzt.
Wer wusste denn, dass Elija in der Ca’ Tron zu finden war?
Alexia nickte. »Euer Bruder David hat ihn hierher gebracht. Er ist sehr schwach und kann kaum laufen …«
»Wie heißt der Mann?«, wollte Elija wissen.
»Salomon Ibn Ezra.«
Wenig später führte David Salomon in die Bibliothek.
Elija sprang auf, um ihm entgegenzugehen und ihn zu umarmen, doch Salomon fiel unbeholfen auf die Knie und küsste seine Hand. »Der Ewige segne dich! Du hast mir das Leben gerettet!«
Elija half ihm auf. »Du bist frei!«, flüsterte er bewegt. »Du bist frei, Salomon!«
»Und dafür danke ich dir!«
»Mir?«
»Der Capo des Zehnerrats, Tristan Venier, kam heute Nacht in meine Zelle. Erst fürchtete ich, die Folter würde fortgesetzt, aber nein! Señor Venier hat mir das Urteil des Rates verkündet. Zuerst habe ich nicht verstanden, was er mir da vorlas. Atemlos habe ich auf die Worte gewartet: ›… verurteilen wir Ibn Ezra zum Tode.‹ In Sevilla wäre ich lebendig verbrannt worden!
Aber am Ende half mir Señor Venier auf die Beine und sagte: ›Geht nach Hause! Ihr seid frei.‹ Ich habe Adonai für meine unerwartete Rettung gedankt, doch Señor Venier sagte: ›Dankt nicht Gott, Salomon, dankt Rabbi Elija Ibn Daud.‹ Dann gab er mir dieses Schreiben.«
Salomon zog ein gefaltetes und gesiegeltes Schreiben aus der Tasche und reichte es mir. »Diesen Brief soll ich Euch von Señor Venier geben.«
Ein Brief von Tristan?
Wie erstarrt sah ich auf die vertraute Schrift: Der schwungvolle Schnörkel über dem Buchstaben i …
Derselbe wie auf dem Zettel: So che hai fatto!
Mit zitternden Fingern riss ich das Siegel ab und entfaltete das steife Papier. Meine Augen huschten über die wenigen Zeilen: ›… der Rat der Zehn hat ein gerechtes Urteil gefällt … Salomon Ibn Ezra wird freigelassen, denn er ist unschuldig … Er hat kein Verbrechen gegen die Republik Venedig begangen … Zaccaria Dolfin und Antonio Tron werden mich wegen dieser Entscheidung im Maggior Consiglio angreifen … Ich stehe zu meiner Entscheidung, selbst wenn meine Karriere damit beendet sein sollte …‹ Und eine Zeile weiter: ›… und ich hoffe, dass du nun mit Elija glücklich bist. Ich bin es nicht. Tristan.‹
Bestürzt wandte ich mich ab.
Menandros umarmte mich, während Elija Salomon und seinen Bruder zur Tür geleitete.
»David wird dich nach Hause bringen, Salomon«, sagte er, und sein Bruder nickte. »Ruhe dich aus, mein Freund! Und danke Gott für deine Rettung! Ich würde mich freuen, dich am Schabbat in der Synagoge zu sehen.«
»Ich werde kommen«, versprach Ibn Ezra.
»Salomon, ich bitte dich: Sag niemandem, was in dieser Nacht geschehen ist.«
Ibn Ezra wirkte betroffen. »Es tut mir Leid. Vor einer Stunde war ich bei Asher Meshullam. Ich habe ihm gesagt, was du getan hast … War das nicht recht?«
»Doch, doch, Salomon«, beruhigte ihn Elija und fing einen besorgten Blick von David auf. »Aber versprich mir, es sonst niemandem zu erzählen!«
»Sein Sohn hat Salomon zu mir gebracht«, erklärte David. »Asher lädt dich für Donnerstag zum Abendessen ein.«
Elijas Blick irrte zu mir herüber. Wir hatten eigentlich dem Fronleichnamsfest entkommen und aufs Festland rudern wollen, um einen Tag und eine Nacht gemeinsam zu verbringen.
Schicksalsergeben nickte er: »Schick Yehiel zu Asher, und danke ihm für die Einladung. Ich werde kommen.«
»Aber warum soll ich denn niemandem erzählen, was du für mich getan hast?« Salomon legte Elija die Hand auf die Schulter. »Du bist so bescheiden. Du stellst dein Licht dorthin, wo es niemand sehen kann.«
Ich wusste, warum Elija so handelte. Er war zutiefst
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