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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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erwarten, dass den Worten vom Kommen des ›Königreichs der Himmel‹ nun endlich Taten folgen. Verstohlen blickt er Jeschua an: Schreckt er vor diesem letzten Schritt zurück? Es ist doch alles vorbereitet: Die getreuen Gefolgsleute sind seit Tagen in der Stadt!
    Und selbst wenn Jeschua scheitert, wie sein Vater Joseph der Gerechte vor ihm gescheitert war, dann wird ihm sein Bruder Jakob nachfolgen. Und wenn Jakob es nicht schafft, dann wird Jehuda es wagen. Oder Schimon. Oder ihr Cousin Simeon. Irgendein Davidssohn wird den Tempel betreten.
    Jeschua hat sich besonnen. Wir, seine Gefolgsleute und engsten Vertrauten, folgen ihm, der schon lange nicht mehr nur unser Rabbi ist, durch das Kidron-Tal hinauf zum Stadttor. Er schreitet voran, und seine Gemahlin Mirjam ist in dieser schweren Stunde mit den Kindern an seiner Seite …«
    »Mit seinen Kindern?«, unterbrach ich Elija erstaunt. »Sie müssen noch sehr klein gewesen sein.«
    Elija nickte. »Ich nehme an, dass sein Sohn Jehuda bereits Bar-Mizwa gefeiert hat.«
    »Und wo ist der Esel?«, fragte Menandros. »Was ist mit der Sacharja-Prophezeiung, dass der gerechte und demütige Messias auf einem Esel reiten soll? Alle vier Evangelisten berichten davon. Und die Festpilger breiteten ihre Kleider aus auf seinem Weg.«
    Elija schüttelte den Kopf. »Wenn Jeschua auf einem Esel reitend in einem Triumphzug nach Jeruschalajim gekommen wäre, hätte Pilatus ihn wahrscheinlich noch am selben Abend gekreuzigt! Jeschua ging zu Fuß. Er durfte kein Aufsehen erregen. Noch nicht!«
    »Noch nicht?«, fragte ich gespannt, verstummte dann aber und ließ ihn weitererzählen:
    »Wir folgen Jeschua hinauf zum Stadttor: Mirjam und die Kinder, Jeschuas Brüder Jakob, Jehuda und Schimon, seine Cousins Jakob und Johanan ben Savdai sowie Jakob und Mattitjahu ben Chalfai und deren Freunde und die Gefolgsleute* mit den Dolchen im Gewand, die Jeschuas Leben schützen sollen.«
    Elija übersah Menandros’ erstaunten Blick und fuhr fort:
    »Auf dem Weg hinauf zum Tor treffen wir viele Pilger mit dem Lulav-Zweig in der Hand. Rund hundertzwanzigtausend Pilger sind in der Stadt, die aus allen Nähten platzt. Es ist Sukkot, das Laubhüttenfest, und …«
    »Aber es ist Palmsonntag!«, protestierte Menandros energisch. »Jeschua ist im Frühling zum Pessachfest nach Jerusalem gezogen! Das schreiben alle Evangelisten!«
    »Es ist Sukkot, das Pilgerfest im Herbst«, beharrte Elija. »Die Pilger halten einen Feststrauß aus einem Palmzweig, Lulav genannt, einer Zitrusfrucht, einer Bachweide und einer Myrte in der Hand. Man schwingt ihn beim feierlichen Umzug um den Altar – den Brauch gibt es noch heute an Sukkot in den Synagogen. Und die Pilger singen den hundertachtzehnten Psalm: ›Adonai, hilf doch – Adonai, gib Segen und Gnade! Gesegnet sei der, der kommt im Namen Adonais!‹« Elija holte tief Luft. »Aus dem hebräischen ›Hoscha na – Errette doch!‹ wurde das griechische Hosianna.
    Und es klingt doch sehr nach einer flehentlichen Aufforderung an Jeschua, den Sohn Davids, sich endlich mit Macht und Herrlichkeit zu offenbaren, die Römer zu vertreiben und sich in einer öffentlichen Zeremonie zum König Israels salben zu lassen! Der Evangelist Johannes nennt Jeschua ›den König von Israel‹. Und Lukas geht noch einen Schritt weiter – er lässt Jeschua huldigen, als wäre er bereits zum König gesalbt worden: ›Gepriesen sei der König, der kommt im Namen Adonais.‹«
    Menandros und ich hingen an Elijas Lippen.
    Die Frage, die uns am meisten beschäftigte, wagten wir nicht zu stellen: War Jeschua der König der Juden?
    »Wir folgen Jeschua hinauf zum Tempel«, fuhr Elija fort. »Wir drängen uns durch die zum Heiligtum strömenden Festpilger, die den hundertachtzehnten Psalm singen: ›Hoscha na – Errette doch! Gepriesen der, der kommt im Namen des Herrn. Gepriesen sei die kommende Königsherrschaft unseres Vaters David. Hoscha na in der Höhe!‹ – Aber haben sie das wirklich gesungen?«
    »Worauf willst du hinaus?«, fragte ich.
    »Die Worte ›Hoscha na in der Höhe‹ ergeben im Hebräischen überhaupt keinen Sinn – ebenso wenig wie im Griechischen!« Als ich nachdenklich nickte, fuhr er fort: »Die erste Aufgabe eines gesalbten Königs der Juden ist es, die Römer zu vertreiben und die Gottesherrschaft in einem befreiten und unabhängigen Reich Israel wieder zu errichten.
    ›Hoscha na‹ ist ein Hilferuf um Errettung aus Not, Elend und Unterdrückung. Doch was rufen

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