Die Evangelistin
beunruhigt:
Was würde Tristan als Nächstes tun?
»›… und als er in Jeruschalajim einzog, war die ganze Stadt in Aufruhr‹«, las Elija vor, nachdem David und Salomon gegangen waren. »›Wer ist er?, fragten sie. Die Leute sagten zueinander: Das ist Jeschua, der Prophet …‹«
Elija las die Frage in meinen Augen. »Ein jüdischer Prophet ist ein Mensch, der Gott und dem König widerspricht, der gegen Ungerechtigkeit kämpft, gegen Machtgier, Ausbeutung und heidnischen Aberglauben, der die herrschende Gesellschaftsordnung kritisiert und der der Verfolgung durch die Mächtigen erbittert Widerstand leistet.
Der Prophet Samuel wies König Schaul in aller Öffentlichkeit scharf zurecht, der Prophet Nathan verfluchte König David als Mörder und Ehebrecher, und der Prophet Elija musste sogar vor König Ahab fliehen – wie Jeschua vor der Verfolgung durch Herodes Antipas fliehen musste, weil er mit dessen Politik als römischer Vasallenfürst nicht einverstanden war.
Jesaja, Jeremia und Jeschuas Cousin Johanan der Täufer mischten sich ganz unverschämt in die Politik ein – wie es auch Jeschua in der Frage getan hat, ob die Juden die römischen Steuern zahlen sollten. Und Jeschuas Antwort war ein unmissverständliches Nein – aber dazu kommen wir noch!«, fügte Elija an, als er Menandros’ Verblüffung bemerkte.
»Die Propheten geißelten das Volk Israel und seine Könige mit scharfen Worten, beschworen Gottes Zorn, forderten zu Besinnung, Umkehr und Gesetzestreue auf und riefen Israel zurück zum Bund mit dem Ewigen. All das gehörte zu ihrer Berufung als Prophet – nicht jedoch Weissagungen über die Zukunft. Erst die Übersetzung hat den hebräischen Nabi in einen griechischen Propheten verwandelt und aus dem Mahner und Künder einen Wahrsager künftiger Ereignisse gemacht.
Jeschua war ein Prophet, ein Künder der bevorstehenden Gottesherrschaft, des Königreichs der Himmel, das alles andere war als nicht von dieser Welt. Er verkündete nichts anderes als die Wiedereinsetzung des jüdischen Königs, des gesalbten Maschiach, des Sohnes Gottes, wie er im Krönungsritual genannt wird.
Die Salbung eines Königs und dessen Machtübernahme im Tempel war aber nur der erste Schritt. Als erste Amtshandlung musste der neue König den Hohen Priester Joseph ben Kajafa und seine Gefolgsleute entmachten, denn sie arbeiteten eng mit dem römischen Präfekten Pilatus zusammen. Galiläa und Judäa mussten nach der Absetzung des Tetrarchen Herodes Antipas als römischem Vasallenfürsten und nach der gewaltsamen Vertreibung der Römer zum Reich Israel vereinigt werden – eine Vision, die der Prophet Ezechiel eindrucksvoll beschworen hatte: ›So spricht der Herr: Siehe, Ich nehme die Söhne Israel aus den Völkern heraus, wohin sie gezogen sind, und Ich sammle sie und bringe sie in ihr Land. Und Ich mache sie zu einer Nation, und ein König wird sie regieren.‹
Angesichts der römischen Legionen in Syrien würde die Schaffung eines unabhängigen Staates Israel einen jahrzehntelangen blutigen Freiheitskampf bedeuten. Jeschua kannte die Folgen genau, denn er konnte sich gewiss noch sehr gut an die brennenden Städte und die Massenkreuzigungen nach dem letzten großen Aufstand erinnern. War nicht auch sein Vater Joseph gekreuzigt worden?
Das und nichts anderes hat Jeschua verkündet. Das und nichts anderes meinte er, als er sagte, jeder der ihm nachfolge, müsse bereit sein, als Rebell gegen Rom am Kreuz zu sterben.
Und sein Besuch im Tempel am Sukkot-Fest war alles andere als das überraschend brutale, aber doch im Grunde harmlose, ja lächerliche Geschehen, das die Evangelisten daraus gemacht haben: die so genannte Tempelreinigung.«
Elija zog ein Blatt Papier zu sich heran und zeichnete mit der Feder ein großes in Nord-Süd-Richtung stehendes Rechteck.
»Das hier ist der wie eine Festung ummauerte Tempelberg«, erklärte er, während Menandros und ich unsere Stühle näher heranrückten. »Die hohen Mauern waren mit zweischiffigen Säulenhallen und Decken aus Zedernholz geschmückt. Acht Tore führten in den Tempelbezirk, dessen Boden mit einem Mosaikpflaster verziert war.
Im Norden …« Mit kratzender Feder zeichnete er ein kleineres Quadrat. »… lag die Burg Antonia, der ehemalige Palast von König Herodes und die Residenz des römischen Präfekten – falls er zu den Pilgerfesten in der Stadt war. Sein Amtssitz befand sich ja eigentlich in Caesarea am Meer. Von der Burg Antonia führten Treppen in den
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