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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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die Leidenschaft genoss, mit der er mich begehrte! Dass Tristan unsere tiefen Gefühle für eine flüchtige Affäre hielt, tat mir sehr weh.
    Elija steuerte die Gondel quer über den Canalazzo in die Einfahrt zum Rio di San Tomà. Ich hatte ihm nicht mitgeteilt, wohin ich ihn führen würde.
    Als er nach seinem Morgengebet die Tefillin von seinem Arm wickelte und zusammenlegte, hatte ich ihm nur gesagt »Mein Liebster, ich möchte dich jemandem vorstellen!«, und er hatte genickt.
    Elija duckte sich und ließ die Gondel durch den schmalen Kanal gleiten, als wir die erste Brücke bei der Kirche San Tomà passierten. Hinter der nächsten Biegung schwangen sich drei weitere Brücken über den Kanal. Dann bogen wir nach rechts ab in den Rio dei Frari.
    »Dort kannst du die Gondel festmachen.« Ich wies auf die Anlegestelle des Campo dei Frari.
    Elija steuerte an die Stufen heran, schlang das Seil um einen Pfahl und half mir über die algengrünen Stufen auf den Campo. Dann zog er mich an sich und küsste mich.
    Drei Franziskanermönche vor dem Portal der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari beobachteten uns. Da fasste ich Elija an den Aufschlägen seines schwarzen Gelehrtentalars und drehte den aufgestickten Judenkreis unauffällig nach innen. Als Jude konnte er nicht in eine Franziskanerkirche gehen.
    Die Mönche starrten ganz ungeniert in unsere Richtung und tuschelten miteinander.
    Dann ergriff ich Elijas Hand und zog ihn über den Campo zur Frari-Kirche hinüber. Zögernd folgte er mir: Fürchtete er, Fray Santángel, der bis zum Brand in der vorletzten Nacht vor Arons Kontor gepredigt hatte, in die Arme zu laufen?
    Wir gingen an den Fratres vorbei und betraten die große, lichtdurchflutete Kirche. Hinter dem Hauptportal blieb Elija stehen und betrachtete schweigend die schlichte Basilika, deren einziger Schmuck der rot-weiße Fußboden und die bemalten Holzbalken waren, auf denen das weite Kreuzgratgewölbe ruhte.
    Ich spürte, welche Überwindung es ihn kostete, nach all den leidvollen Erfahrungen in Córdoba wieder eine Kirche des Ordens von San Francesco d’Assisi zu betreten. Fray Francisco Jiménez de Cisneros, der Kardinalerzbischof von Toledo und Großinquisitor von Kastilien, der Mörder seiner Frau und seines Sohnes, war ein Franziskanermönch.
    Hand in Hand schritten Elija und ich durch die marmornen Chorschranken. Dann hatten wir die hohe Apsis erreicht, und ich wies auf den Altar vor den vier Reihen hoher Fenster, die mich als Kind immer an eine Spitzenborte aus Burano erinnert hatten.
    »Maestro Tizian malt derzeit eine Assunta, eine Himmelfahrt Marias, für die Frari-Kirche. Vor einigen Wochen habe ich ihn in seinem Atelier besucht, das nicht weit von der Ca’ Tron entfernt ist. Die Entwürfe sind einzigartig! Und die Farben!«, schwärmte ich. »Und das hier …« Ich wies nach oben. »… ist das Grabmal des Dogen Niccolò Tron, der vor vierundvierzig Jahren regierte.«
    Beeindruckt trat Elija einen Schritt zurück, um das gewaltige Marmorgrab des Dogen zu bewundern.
    Ungeduldig zog ich ihn zu einem schlichten Marmor-Epitaph, der im Seitenschiff in die rote Backsteinwand eingelassen war.

    Giacomo Tron 1467–1509

    Gerührt las Elija den Grabspruch meines Vaters:

    Er lebte, wie er starb.
    Seine letzten Worte waren:
    Ich bin frei

    Ich ergriff seine Hand und sagte, zum Grab meines Vaters gewandt:
    »Papa, das ist Elija. Ich liebe ihn sehr. Er ist der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will.«
    In seinen tiefsten Gefühlen aufgewühlt, umarmte mich Elija.
    »Ich liebe dich! Du hättest mir keine größere Freude machen können.«

    Nach unserer Rückkehr in die Ca’ Tron begannen wir zu dritt mit der Übersetzung der Passionsgeschichte.
    Offenbar spürte Menandros, dass zwischen Elija und mir etwas anders war als noch eine Stunde zuvor.
    Was war gestern Abend zwischen den beiden geschehen?
    Als wir schließlich die ersten elf Verse des Einzugs nach Jerusalem ins Hebräische übertragen hatten, las uns Elija den Text vor: »Als sie sich Jeruschalajim näherten und nach Bet-Page am Ölberg kamen, schickte Jeschua zwei seiner Talmidim mit folgenden Anweisungen voraus: ›Geht in das Dorf vor euch, und ihr werdet eine Eselin finden, die dort mit ihrem Fohlen angebunden ist. Bindet es los, und bringt es zu mir. Wenn jemand etwas zu euch sagt, antwortet ihm: Der Herr braucht es!, und er wird es sofort gehen lassen.‹
    Dies geschah, damit erfüllt würde, was durch den Propheten gesagt

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