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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Tempelbezirk hinunter.«
    Mit dem Federkiel wies er auf die linke Seite des Tempelberges.
    »Die befestigte Westwand des zerstörten Tempels ist die heutige Klagemauer.« Dann zeichnete er ein kleineres Rechteck in Ost-West-Ausrichtung in den großen Tempelbezirk. »Im Osten lag das Schöne Tor, durch das man den ersten Vorhof betrat. Hier …« Er tippte auf das Papier. »… hingen große Warntafeln in Griechisch und Lateinisch: Fremden war es bei Todesstrafe verboten, den Tempel zu betreten.«
    Gebannt folgten Menandros und ich Elija durch den vor mehr als tausend Jahren zerstörten Tempel.
    »Vom ersten Vorhof stieg man fünfzehn Stufen hinauf zum Nikanor-Tor, dessen gewaltige, fünfzig Ellen hohe Torflügel mit Gold und Silber beschlagen waren, und betrat den zweiten Vorhof. Direkt vor dem Tempel, im Vorhof der Priester, stand der Brandopferaltar …«, den Elija wie die Tore und Vorhöfe einzeichnete, »… und zwölf Stufen führten hinauf zum Tempel, einem gewaltigen Bauwerk, das hundert Ellen hoch und ebenso breit war. Das Tor maß siebzig Ellen in der Höhe – es hatte keine Torflügel: Der Zugang zu Gott war niemals verschlossen.
    Im Tempel befanden sich die goldene Menora, der Rauchopferaltar und der Tisch mit den zwölf Schaubroten, Symbol für die zwölf Stämme Israels. Dahinter lag das Allerheiligste, das der Hohe Priester nur am Versöhnungstag Jom Kippur betrat. Dieser Raum war völlig leer. Nur ein Stein lag an der Stelle, wo in König Salomos Tempel die Bundeslade gestanden hatte.
    Der Tempel war über und über von Goldplatten umhüllt. Wenn die Sonne aufging, dann glänzte und funkelte er wie Feuer, sodass der Betrachter sein Auge wie von den Strahlen der Sonne abwenden musste. Und wo der Tempel nicht wie Gold schimmerte, war er strahlend weiß wie Schnee. Es muss ein überwältigender Anblick gewesen sein!«
    Elija seufzte aus tiefstem Herzen.
    »Heute steht an der Stelle des zerstörten Tempels der muslimische Felsendom, einer der heiligsten Orte des Islam. Der Legende nach ritt der Prophet Mohammed von hier aus in den Himmel.«
    Menandros blickte ihn betroffen an. Er verstand Elijas Schmerz, denn die Hagia Sophia war inzwischen auch eine Moschee.
    »Und wo standen die Tische der Geldwechsler und der Taubenverkäufer?«, fragte ich mit Blick auf die Skizze.
    Elija wies auf den großen Hof zwischen dem Tempel und den Säulenhallen. »Im Vorhof der Heiden, außerhalb des Tempels.«
    Er steckte die Feder ins Tintenfass und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
    »Während der Tempelreinigung soll Jeschua die Tische der Opfertierverkäufer und der Geldwechsler umgeworfen haben.
    Wie viele hat er hinausgetrieben? Acht, neun oder zehn Händler? Haben sie sich gegen ihn gewehrt? Haben sie die mit Knüppeln bewaffneten Tempelwächter gerufen, um den Ruhestörer festnehmen zu lassen? Wie viele Männer hätte Jeschua auf diesem riesigen Tempelplatz allein hinaustreiben können? Denn die Jünger halfen ihm ja nicht!
    Was hat Jeschua mit den römischen Münzen mit dem Bild des Kaisers gemacht? Hat er die Käfige geöffnet und die Tauben freigelassen? Und warum hat er die Händler überhaupt vertrieben? Sie hatten das Recht, im Vorhof der Heiden Handel zu treiben, und Jeschua hat den Tempelkult und Opferdienst bei keiner seiner Pilgerfahrten zu Sukkot oder Pessach jemals angegriffen. Und hatte er nicht gesagt, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen und wiederherzustellen?«
    Betroffen sah ich Elija an.
    »Du glaubst also, die Tempelreinigung hat gar nicht stattgefunden?«, fragte Menandros gespannt.
    »Mit Sicherheit hat es einen Tumult und Blutvergießen gegeben, als Jeschua mit seinen Gefolgsleuten während des Sukkot-Festes in den Tempelbezirk stürmte und der Hohe Priester Joseph ben Kajafa auf die Besetzung reagieren musste. Aber es war ganz gewiss keine Prügelei mit Geldwechslern oder Opfertierverkäufern im Vorhof der Heiden.«
    »Was, denkst du, ist wirklich geschehen?«, wollte ich wissen.
    »Der Evangelist Markus deutete an, was vorgefallen ist.« Elija nahm die lateinische Bibel zur Hand und schlug das elfte Kapitel auf: »Hier steht es, Vers 18: ›Und die Hohen Priester‹ – gemeint sind die Anhänger von Joseph ben Kajafa – ›überlegten, wie sie ihn umbringen könnten. Sie fürchteten ihn nämlich, weil die Massen so sehr von seiner Lehre angetan waren.‹ Im Evangelium des Matthäus riefen die Sukkot-Pilger: ›Hoscha na! Errette uns doch, du Sohn

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