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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Davids!‹, wie sie zuvor gerufen hatten: ›Errette uns von den Römern!‹
    Kein Wunder, dass der Hohe Priester Joseph ben Kajafa ihn töten lassen wollte – aber nicht, weil Rabbi Jeschua im Vorhof der Heiden randaliert oder ein paar Händler verprügelt hatte, sondern weil er fürchtete, abgesetzt zu werden – entweder durch Jeschua, der ihn stürzen wollte, oder durch Pontius Pilatus, weil es dem Hohen Priester nicht gelang, den Tumult im Tempel unter Kontrolle zu bekommen, der sich auf die ganze Stadt auszuweiten begann. Nicht einmal die Evangelisten leugneten, dass es einen blutigen Aufstand gegeben hat.«
    »Eine Revolte?«, flüsterte Menandros entsetzt.
    »Eines ist sicher«, sagte Elija. »Was immer an jenem Tag geschah – für Jeschua war es die Stunde der Entscheidung. Dass sein Vorhaben misslang, dass er grandios scheiterte, war der Grund, warum er wenige Stunden später von den Römern festgenommen, verurteilt und dann gekreuzigt wurde.«
    Ungestüm zerrte Menandros die griechischen Evangelien heran und blätterte so hastig bis zur Salbung in Bethanien, dass er beinahe die Seiten zerrissen hätte.
    »Ich bitte dich, Menandros!« Elija legte ihm die Hand auf den Arm. »Hab noch zwei Tage Geduld, bis wir jene rätselhafte Szene in dem Haus in Bethanien übersetzt haben. Dann wirst du verstehen, was an jenem Tag im Tempel wirklich geschah …«

· E LIJA ·
K APITEL 12
    Wie sehr hatte ich mich darauf gefreut, mit Celestina zur Terraferma hinüberzurudern. Mit ihr über die Wiesen und Felder zu galoppieren. Sie vom Pferd zu heben und im Uferschilf der Lagune zu lieben. Dann wollten wir eng aneinander geschmiegt in den Sommerhimmel hinaufsehen und träumen. Ohne Menandros neben uns im Schilfbett, ohne Davids traurige Blicke, ohne Tristans verzweifelte Briefe. Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt, endlich mit Celestina allein zu sein. Die Szene am Grab ihres Vaters hatte mich tief berührt. »Elija ist der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will.« Ich war glücklich, dass sie sich für mich entschieden hatte.
    Hinter dem Ponte di Rialto und dem Markt bog ich auf meinem Weg zu Asher Meshullams Palacio nach links ab und kam wenig später an Arons niedergebranntem Kontor vorbei.
    In jener Nacht, als er die verglimmenden Papiere in den Tesoro warf, hatte sich mein Bruder die Hände verbrannt. Seit Tagen trug er dicke Verbände, die David regelmäßig wechselte. Marietta kümmerte sich hingebungsvoll um ihren Verlobten, der seit drei Tagen bei ihr wohnte. Mit seinen verletzten Fingern konnte Aron nicht einmal einen Löffel halten.
    Während ich den Campo di San Polo überquerte, fragte ich mich, wie Mariettas Bruder Angelo, der Erzbischof und Vertraute Papst Leos, reagieren würde, hätte er gewusst, dass seine Schwester in ihrem Haus nahe San Moisè mit einem sefardischen Juden zusammenlebte.
    Dann hatte ich Ashers Palacio am Campo di San Polo erreicht. Der Platz war so menschenleer wie die Gassen jenseits des Rialto. Das aufgestickte Zeichen an meiner Kleidung hatte ich ›versehentlich‹ verdeckt, doch meine Vorsicht war unnötig gewesen: Die meisten Gojim waren auf der Piazza San Marco, um das Corpus-Christi-Fest mit einer Prozession zu feiern. Niemand hatte mich angegriffen oder bedroht. Fray Santángel, der täglich vor Arons Kontor seine antijüdischen Hetzpredigten gehalten hatte, war verschwunden.
    Ich klopfte und trat, während ich wartete, einen Schritt zurück, um den großartigen Palacio zu bewundern. Die Fassade war ebenso herrlich mit Säulen geschmückt wie die Ca’ d’Oro oder die Ca’ Tron. Welch eine Pracht!
    Die Meshullams hatten den Palast gemietet, als die Brüder mit ihren Familien nach Venedig gezogen waren. Chaim, der Leiter einer der größten und mächtigsten Banken der Republik Venedig, zeigte seinen immensen Reichtum ganz ungeniert. Die fanatischen Bettelmönche hetzten die durch den endlosen Krieg verarmten Venezianer gegen die reichen Juden auf, doch Chaim und Asher ließen sich dadurch nicht einschüchtern. Was blieb ihnen übrig, als sich selbstbewusst zu geben? Ihr Vater Salomon war vor Jahren nach der Hetzpredigt eines Mönchs von der aufgebrachten Menge misshandelt und beinahe getötet worden.
    Das Portal wurde einen Spalt breit geöffnet. »Wer seid Ihr?«
    »Ich bin Rabbi Elija Ibn Daud.« Ich wies auf den Judenkreis auf meiner Kleidung.
    Das Tor wurde aufgeschoben.
    Ein Diener geleitete mich die Treppe hinauf in das Arbeitszimmer, wo Asher mich

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