Die Evangelistin
nach dem Tod deines Sohnes noch einmal Kinder haben?«
»Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind mit Celestina. Benjamin wäre jetzt neunzehn – ein junger Mann. Er wäre verheiratet, hätte vielleicht selbst schon Söhne.« Ich seufzte. »In ein paar Monaten werde ich vierzig. Wenn ich nochmal ein Kind haben könnte, wäre es ein Gottesgeschenk. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich danach sehne, noch einmal ein kleines Menschenkind im Arm zu halten.«
Asher, selbst Vater eines Sohnes, nickte. »Dein Sohn wäre kein Jude, wenn Celestina nicht konvertiert. Nur das Kind einer jüdischen Mutter ist ein Ju…«
»Ich bin Rabbi. Du musst mir die Gesetze nicht erklären.«
»Wenn sie Jüdin wird, muss sie die Ca’ Tron verkaufen, denn Juden dürfen in Venedig keinen Grundbesitz haben. Wo willst du mit ihr leben?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Würdest du aus Venedig fortgehen?«
»Ja«, nickte ich, denn ich war bereit, das Paradies auf Erden zu verlassen, nur um mit ihr zusammen zu sein.
»Wohin würdest du mit ihr gehen?«
»Nach Jeruschalajim.«
»Was willst du in der Wüste, mein Prophet Elija? Den Steinen und dem Sand Gottes Wort verkünden?«, fragte Asher spöttisch. »Jeruschalajim liegt in Trümmern. Auf dem Tempelberg steht eine Moschee. Und in der Stadt gibt es mehr Kirchen als Synagogen oder Talmudschulen. Was, um Himmels willen, willst du dort?«
Dem Gebot des Propheten Ezra zum Trotz gab er während des Abendessens seine tiefe Besorgnis über meine Liebe zu Celestina und meine Freundschaft zu Tristan auf, denn sie waren vorteilhaft für die jüdische Gemeinde. Celestina und Tristan waren Vertraute des Dogen. Und meinen Einfluss auf den Capo dei Dieci bewies doch schon die Tatsache, dass Tristan Salomon freigelassen hatte – eine Entscheidung, für die er heftig angegriffen worden war.
Da im Senat immer wieder über die Ausweisung der Juden diskutiert wurde, war meine Verbindung zum Dogen sehr wertvoll. Als ich Asher erzählte, dass Loredan mich zum Abendessen eingeladen hatte, war er so erfreut, dass er mir für jenen Abend erneut seinen Koch zur Verfügung stellte, damit ich im Palazzo Ducale koscher speisen konnte.
Nun hatte Asher keine Einwände mehr, dass ich mit Celestina arbeitete, dass ich sie jeden Tag besuchte und hin und wieder auch über Nacht blieb. Denn er ging davon aus, dass ich sie irgendwann heiraten würde.
Am nächsten Abend – Celestina und ich hatten Jeschuas lange Tempelrede übersetzt – besuchte Kardinal Domenico Grimani die Synagoge, allerdings früher als angekündigt.
Noch lehrte ich die Humanisten, als er leise in den Gebetssaal trat. Er trug keine purpurfarbene Soutane, sondern enge Hosen, eine schlichte schwarze Samtjacke mit Silberknöpfen und eine Kappe, die seine Tonsur verbarg. Kein Gefolge begleitete ihn – sein Besuch war nicht offiziell, sondern rein privat. Als ich ihm entgegengehen wollte, um ihn angemessen zu begrüßen, schüttelte der Kardinal den Kopf, legte den Finger an die Lippen und setzte sich still in die letzte Reihe der Synagogenbänke, um meinem Vortrag über das höchste Gebot der Tora zu lauschen: das Gebot der Liebe.
Das lange Gespräch mit Asher nach dem Abendessen hatte mich zu diesem Thema inspiriert. Ich erklärte den Humanisten und dem Kardinal, dass Rabbi Schimon der Gerechte die Lehre zu drei Forderungen zusammengefasst hatte: ›Tora, Gottesdienst und praktizierte Nächstenliebe‹. Rabbi Akiba dagegen hatte nur einen Lehrsatz formuliert: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹ Und auch für Rabbi Hillel war die Nächstenliebe die wichtigste Forderung – der Rest der Bibel war für ihn nur ein Kommentar zu diesem einen Gebot.
»Und was ist Eurer Ansicht nach das höchste Gebot?«, fragte Kardinal Grimani aus der letzten Reihe.
Die Humanisten, die sein Eintreten nicht bemerkt hatten, drehten sich erstaunt zu ihm um.
»Ich stimme mit einem anderen berühmten Rabbi darin überein, dass es zwei Gebote gibt«, erklärte ich. »Das erste ist das Schma Israel, das jüdische Glaubensbekenntnis: ›Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen.‹ Das zweite ist das Gebot der Nächstenliebe: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Oder, in einer anderen Übersetzung: ›Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.‹«
»Und wer ist jener berühmte Rabbi, mit dem gemeinsam Ihr diese Lehre vertretet?«, fragte der Kardinal.
»Rabbi Jeschua ha-Nozri, besser bekannt als Jesus der
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