Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
Vom Netzwerk:
seiner Krankheit gelitten, die am Ende doch nur ein Abschreibefehler war – wie so vieles in den Evangelien! Was ist in Jeschuas Mahl mit den von Gott Verworfenen nicht alles hineininterpretiert worden!
    Jener Schimon der Essener hat wirklich gelebt. Er war schriftgelehrter Rabbi, ein bekannter Mann. Der Talmud erwähnt ihn wie übrigens auch Flavius Josephus.«
    Ich nahm die Seiten mit meiner Übersetzung und las weiter vor. »›Als Jeschua in Bethanien war, im Haus Schimons des Esseners, kam eine Frau zu ihm, die ein Alabasterfläschchen mit sehr kostbarem Salböl hatte, und goss es auf sein Haupt, als er zu Tisch lag.‹«
    »Ein griechisches Symposion?«, fragte Celestina mit einem Schmunzeln. »Ein gelehrtes Gespräch bei einem Becher Wein?«
    »Ja, so ähnlich!«, nickte ich. »In reichen jüdischen Familien war es üblich, bei Tisch zu liegen – wie bei den Griechen. Die christlichen Darstellungen des Letzten Abendmahls, in denen Jeschua, umgeben von seinen Talmidim, an einer Tafel sitzt und das Brot bricht, sind falsch!«
    »Erkläre das bitte Leonardo da Vinci!«, kicherte sie.
    »Gerne – wenn ich ihn in Rom treffe!«, gab ich übermütig zurück. »Vielleicht reist er dann sofort zurück nach Mailand und schlägt sein Abendmahl in Santa Maria delle Grazie wieder ab.«
    Das berühmte Fresko hatte ich mir in Mailand angesehen, als ich mit meiner Familie während unserer Flucht von Paris, Lyon und Chambéry über Turin und Mailand nach Florenz gereist war. Ich war beeindruckt gewesen – vor allem von der Darstellung Jeschuas, die dem zarten Abbild auf dem Grabtuch von Chambéry so ähnlich war.
    »Lies weiter!«, bat Celestina.
    »›Aber diese Verschwendung verstimmte die Talmidim. Denn das Salböl hätte teuer verkauft und der Erlös den Armen gegeben werden können. Als Jeschua es erkannte, sprach er zu ihnen: Warum beschuldigt ihr diese Frau? Sie hat doch wahrlich Großes und Wundervolles an mir vollbracht.‹«
    »Wenn das, was jene Frau getan hat, nicht die Salbung für das bevorstehende Begräbnis war, wie du sagst, dann kann es doch nur die Salbung zum König von Israel gewesen sein!«, triumphierte Menandros und schlug mit der flachen Hand auf die griechischen Evangelien.
    »Nein.« Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme.
    »Nein?« , flüsterte Menandros betroffen.
    »Nein, das war nicht das traditionelle Ritual der Salbung des Maschiach. Das war ein festliches Abendessen bei einem guten Freund Jeschuas, Rabbi Schimon. Einem offenbar sehr wichtigen Gefolgsmann, denn in seinem Haus fand die …«
    »Aber das kostbare Öl, mit dem Jeschua gesalbt worden ist!«, wandte nun auch Celestina ein.
    »Sag mir, Celestina: Wer ist die Frau, die Jeschuas Haupt und Füße mit kostbarem Öl salbt? Eine Sünderin, wie Lukas schrieb? Mirjam, die Schwester des Eleasar, wie Johannes zu wissen glaubte? Warum singt niemand während der feierlichen Zeremonie einen Krönungspsalm? Warum findet die Salbung während eines Abendmahls statt – wieso nicht an einem würdigeren Ort wie dem Berg Zion, wie es der zweite Psalm beschreibt? Wieso huldigt keiner seiner Gefolgsleute Jeschua als ha-Melech ha-Maschiach, als gesalbtem König? Weshalb wird Jeschua nicht mit seinem Titel ›Sohn Gottes‹ angesprochen, der ihm als rechtmäßiger König zusteht?
    Und warum wurde ihm schon bei seinem Einzug nach Jeruschalajim von den Sukkot-Pilgern als Sohn Davids und König Israels gehuldigt? Und wurde er nicht bereits in Jericho so genannt? Alle Evangelisten bezeugten unmissverständlich, dass Jeschua bei seinem Einzug bereits rechtmäßig gesalbter König von Israel war!«
    »Aber seit wann?«, fragte Menandros verwirrt.
    »Blättere neun Kapitel zurück! Evangelium des Matthäus, Kapitel 17: Jeschuas Verklärung auf einem hohen Berg nahe Caesarea Philippi. Das ist die ausführlichste Schilderung einer Königssalbung, die ich je gelesen habe. König Schauls Salbung durch den Propheten Samuel wird in einem einzigen Satz beschrieben. König Davids Salbung werden lediglich zwei Sätze gewidmet! Und Salomos Proklamation zum König wird auch nur in drei Zeilen abgehandelt. Doch König Jeschuas Salbung? Neun lange Verse! Und ein Krönungspsalm!«
    Ich blätterte in meinem Manuskript, um die längst übersetzte Szene zu finden. Schließlich nahm ich das eng beschriebene Blatt, warf einen Blick darauf und erklärte:
    »Matthäus beschrieb, dass Jeschua nach sechs Tagen seine Gefolgsleute Schimon Kefa, Jakob und Johanan ben

Weitere Kostenlose Bücher