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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Nazoräer.«
    Vergnügt lächelnd lehnte Kardinal Grimani sich auf der Synagogenbank zurück, verschränkte die Arme und lauschte meinem Vortrag, der ihm sehr zu gefallen schien. Denn als die Lehrstunde beendet war und meine Talmidim aus dem Gebetssaal strömten, blieb er noch sitzen.
    Er gestand, dass er noch nie zuvor in einer Synagoge gewesen war – sein Lehrer Elija Halevi hatte ihn nie gebeten, ihn zu begleiten. Ich führte ihn herum und zeigte ihm den goldverzierten Schrein mit der Tora und die Kanzel mit dem eingeschnitzten Spruch: ›Wisse, vor Wem du stehst.‹
    Der Kardinal war beeindruckt, und ich fragte ihn, ob er gern am Erev-Schabbat-Gottesdienst teilnehmen wollte. Zuerst sah er mich verblüfft aber fasziniert an, doch dann dachte er wohl an das Donnerwetter, das ihm drohte, falls Papst Leo von seinem privaten Besuch in einer venezianischen Synagoge erfuhr. Als ich ihm erklärte, welche Psalmen am Freitagabend gesungen und welche Gebete gesprochen wurden, nickte er zögernd, und nahm schließlich mit meinem Gebetbuch in der letzten Bankreihe Platz.
    Es war ein schöner Gottesdienst, der dem Kardinal so gut gefiel, dass er zum Kiddusch in mein Haus kam. Domenico Grimani war überrascht, Celestina am Schabbattisch zu finden, und sie erzählte ihm von unserer gemeinsamen Arbeit.
    Der Kardinal, selbst ein Humanist, schätzte Celestina als Gelehrte. Von Ibn Shapruts Prüfstein hatte er schon gehört: Mein Freund Elija Halevi hatte ihm davon erzählt. Domenico Grimani stellte viele Fragen zu unserer Übersetzung der Evangelien ins Hebräische: Wie viele Übersetzungsfehler wir gefunden hätten? Welche theologischen Auswirkungen unsere Korrekturen auf den griechischen Evangelientext hätten? Wann die Übersetzung abgeschlossen sein würde? Ob wir eine Veröffentlichung planten? Und – er wagte kaum zu fragen – ob er denn das Manuskript lesen dürfte?
    Eigentlich hatte er nicht zum Abendessen bleiben wollen, doch er war so gefesselt von Celestinas Ausführungen, dass er gar nicht wahrnahm, wie Judith das Mahl auftrug.
    Es war ein denkwürdiger Abend. Erst lange nach Mitternacht verabschiedete sich der Kardinal, um am nächsten Morgen nach Rom abzureisen.
    Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fiel mir Celestina glücklich lachend um den Hals und wirbelte mich ausgelassen herum. Der Abend war ein großer Erfolg gewesen:
    Kardinal Grimani würde uns die Tore des Vatikans öffnen!

    »›… dann versammelten sich die Hohen Priester und die Ältesten des Volkes im Hof des Kohen ha-Gadol Joseph ben Kajafa und beschlossen, Jeschua mit List zu ergreifen und zu töten. Sie sagten aber: Nicht an dem Fest, damit kein Aufruhr im Volk entsteht‹«, las ich unsere Übersetzung vor.
    Dann sah ich auf.
    »Dieses Todesurteil ist eine Reaktion auf die angebliche Tempelreinigung. Es steht unmittelbar vor der Beschreibung der Salbung in Bethanien, die deshalb Jeschuas Salbung für sein Begräbnis zu sein scheint – was es aber trotz des Kusses, der symbolischen Waschung durch die Tränen und des Salböls aus indischer Narde nicht ist!«, erklärte ich Celestina und Menandros, denen seit dem frühen Morgen die Frage nach Jeschuas Königstitel auf den Lippen brannte. »Wenn Jeschua gewusst hätte, dass er in Jeruschalajim sterben würde, wäre er doch niemals dorthin gegangen. Denn was nützte dem jüdischen Volk noch ein gescheiterter und gekreuzigter Maschiach? An ihm würden sich keine Hoffnungen entzünden!«
    Menandros spielte unruhig mit den Seiten der Evangelien.
    »Aus dramaturgischen Gründen ist die Reihenfolge der Ereignisse in den Evangelien verändert worden«, fuhr ich fort. »Die Tempelreinigung fand nämlich nach dem Abendessen in Bethanien statt. Und das Todesurteil ist eine Folge der Salbung und der Tempelreinigung an Sukkot.«
    Ungeduldig bat mich Menandros: »Lies weiter!«
    »›Als Jeschua in Bethanien war, im Haus Schimons des Esseners …‹«
    »Ich dachte, es hieße: ›im Hause Schimons des Aussätzigen‹!«, unterbrach mich Menandros verwirrt.
    »Das Haus eines Aussätzigen hätte Jeschua niemals betreten. Leprakranken war es verboten, innerhalb von Städten und Dörfern zu wohnen«, erläuterte ich ihm. »Lukas nannte Schimon, bei dem Jeschua an jenem Abend zu Gast war, einen Pharisäer. Ich glaube, dass Schimon ursprünglich nicht der Aussätzige hieß, sondern der Bescheidene, der Fromme. Das ist eine talmudische Bezeichnung für die Essener. Wie hat dieser arme Schimon unter

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