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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Seine Arme werden mit Stricken an das Holz gefesselt. Mit einem schweren Hammer werden lange Nägel durch seine Handgelenke getrieben. Das Querholz mit dem sich vor Schmerzen windenden Jeschua wird mit einem Seil am Pfahl hochgezogen und befestigt. Dann werden die beiden Füße an das Holz geschlagen.«
    Menandros barg sein Gesicht in seinen Händen.
    »Betet ihr Christen nicht diesen gequälten und ans Kreuz genagelten Menschen an?«, fragte David verbittert, als er Menandros’ Tränen bemerkte. Als der verzweifelt aufsah, war mein Bruder bestürzt. »Bitte verzeih mir, Menandros. Ich wollte dir nicht wehtun!«
    »Schon gut!«, murmelte der Grieche und wischte sich mit beiden Händen das Gesicht ab. »Bitte erzähle weiter, David!«
    »Die Kreuzigung ist eine furchtbare Strafe. Das Blut sinkt in die untere Körperhälfte, das Herz schlägt sehr schnell. Die Muskeln in Brust und Bauch verhärten sich durch die enorme Anstrengung, das gesamte Körpergewicht mit den ausgebreiteten Armen halten zu müssen. Wenn der Gekreuzigte sich nicht mit den Beinen abstützen kann, ringt er nach zwei Stunden um Atem und erstickt qualvoll. Deshalb haben die Kreuze einen Sockel für die Füße: um die Qualen des Verurteilten um Tage zu verlängern.
    Die Kreuzigung* dauerte sechs Stunden. Am Nachmittag betete Jeschua den zweiundzwanzigsten Psalm: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‹, der mit den Worten endet: ›Es ist vollbracht.‹ Dann wurde er ohnmächtig …«
    »… und starb«, ergänzte Menandros mit tonloser Stimme. Seine Hand tastete zu dem goldenen Crucifixus, den er unter seiner Soutane trug.
    »Nein, er starb nicht.«
    »Was?« Menandros’ Blick irrte zum Koran in meinem Bücherregal. Entsann er sich der vierten Sure, die er in Istanbul so oft abgeschrieben hatte und seitdem auswendig konnte?
    ›Wir haben den Messias Issa, den Sohn der Mirjam, den Gesandten Allahs, getötet‹, stand im Koran geschrieben. ›Doch sie töteten ihn nicht und kreuzigten ihn nicht zu Tode, sondern es erschien ihnen nur so.‹
    »Nachdem Jeschua von dem Wein getrunken hatte, den man ihm in einem Schwamm an der Spitze eines Speeres hinaufreichte, wurde er ohnmächtig. Ich glaube, dass der Wein Opium enthielt.«
    Menandros starrte David verständnislos an.
    »Opium ist ein starkes Betäubungsmittel«, dozierte David als versierter Medicus. »In kleineren Dosen lindert es den Schmerz und die Angst und führt eine euphorische Stimmung herbei. Nach einem raschen Hochgefühl folgt eine wohlige Ruhephase mit innerem Frieden und Entspannung. Der Opiumrausch führt zu kristallklarem Denken und zu genussvollen Träumen. Sehr hohe Dosen beruhigen so stark, dass man einschläft. Ich habe das selbst ausprobiert.«
    David wich Menandros’ erstauntem Blick aus. »Ich glaube, dass Jeschua trotz seiner Erschöpfung durch die Geißelung dank des Betäubungsmittels noch die Kraft hatte, am Kreuz einen Psalm zu beten. Wohlgemerkt: einen Psalm – nicht das Schma Israel, das jeder Jude betet, wenn er den Tod nahen fühlt, und das Jeschua doch selbst als das höchste Gebot bezeichnete. Nein, Jeschua starb ganz sicher nicht am Kreuz.«
    »Du glaubst also«, fasste Celestina zusammen, »dass Jeschua im Opiumrausch am Kreuz hing und dann bewusstlos wurde?«
    »Ja, das glaube ich. Opium in zu hohen Dosen führt zu Atemlähmung und Herzstillstand. Ein Mensch im tiefen Opiumrausch kann für tot gehalten werden«, nickte mein Bruder. »Jeschua hing erst seit sechs Stunden am Kreuz. Er konnte noch nicht gestorben sein!«
    Als Celestina ihn verwirrt ansah, fügte er hinzu: »Der Talmud berichtet von Menschen, die mehrere Tage am Kreuz überlebten und anschließend gesund gepflegt wurden. Flavius Josephus erzählt, dass drei seiner Freunde gekreuzigt wurden und er den Feldherrn Titus bat, sie abnehmen zu lassen – zwei starben, einer überlebte. Und ich war in den Kerkern der Inquisición in Córdoba: Ich weiß, was Menschen erleiden können, bevor sie sterben. Er war nicht tot!«
    »Wie kannst du das wissen?«, fragte Celestina.
    »Tote bluten nicht.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »David, Aron und ich haben vor fünf Jahren in der Schlosskapelle von Chambéry Jeschuas Grabtuch* gesehen«, nahm ich den Faden der Erzählung auf. »Wir waren auf dem Weg von Paris nach Mailand und weiter nach Florenz. In Chambéry baten wir den Sekretär der Herzogin von Savoyen, uns das Grabtuch zu zeigen. Aber er lehnte ab: ›Da könnte ja jeder kommen!‹« Ich

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