Die Evangelistin
lächelte verschmitzt. »Mit einem Lederbeutel voller Goldmünzen ließ er sich dann doch überzeugen, dass Juan, Fernando und Diego de Santa Fé nicht irgendjemand waren. Er führte uns in die Kapelle und schloss den silbernen Schrein auf, in dem das Grabtuch verwahrt wurde. Dann breitete er es vor uns aus.«
Wie erschüttert war David angesichts der blutigen Wunden auf dem Tuch gewesen! Wie grausam war Jeschua misshandelt worden!
Ich besann mich. »Es war ein sehr bewegender Augenblick für David, Aron und mich …« Als ich Celestinas fragenden Blick bemerkte, verstummte ich, und David fuhr fort:
»Das Grabtuch bewahrt das diffuse, sepiafarbene Abbild eines nackten männlichen Körpers mit gekreuzten Armen. Auf der einen Hälfte des langen Tuches ist die Rückenansicht und auf der anderen die Vorderansicht eines Gekreuzigten zu sehen. Das Tuch war in der Mitte über den Kopf geschlagen worden.
Der Mann war hoch gewachsen und schlank, so groß wie Elija. Sein Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und er trug einen Bart – er scheint ein Nazir* gewesen zu sein …«
»Jeschua ha-Nozri«, murmelte Celestina atemlos. »Jeschua der Nazoräer* …«
Nachdenklich betrachtete sie erst Davids und dann mein schulterlanges Haar. Offenbar fragte sie sich, ob mein Bruder und ich ebenfalls das Gelübde des Nazirats abgelegt hatten.
David nickte. »Ich untersuchte die Wunden des Gekreuzigten. Auf der Brust und dem Rücken, aber auch an den Beinen fand ich über neunzig Geißelwunden von einem römischen Flagrum. Die Anordnung der Wunden lässt darauf schließen, dass zwei Männer hinter Jeschua gestanden und auf ihn eingeschlagen haben. In der Schultergegend rissen die Wunden auf, als er den schweren Kreuzbalken trug. Die Blutflüsse auf der Stirn, im Nacken und in den langen Haaren stammen von einer Krone aus geflochtenen Dornen. Alle Wunden, vor allem aber die Seitenwunde des Lanzenstichs und die Nagelwunden an den Füßen und den Handgelenken, haben noch stark geblutet, als Jeschua im Tuch lag. Tote bluten nicht.«
Als Menandros die Stirn runzelte, erklärte David:
»Wenn Jeschua am Kreuz gestorben wäre, hätten die Wunden keinen derartigen Abdruck im Leinen des Tuchs hinterlassen, denn das Blut wäre längst geronnen. Und wenn das getrocknete Blut bei der Totenwaschung durch das Wasser aufgelöst ins Tuch getropft wäre, hätte es keine derartigen Flecken gegeben.«
Menandros öffnete den Mund, um etwas zu erwidern.
»Erst vor wenigen Tagen habe ich den kleinen Moses Rosenzweig behandelt«, erinnerte David ihn an die blutigen Ereignisse an Schawuot, als der Junge durch Christen schwer misshandelt worden war. »Ich habe versucht, ihn zu retten, doch Moses starb in der Nacht vom Pfingstsonntag.
Solange sein Herz noch schlug, strömte das Leben aus ihm heraus. So viel Blut! Aber als sein Herz still stand, versiegte das Blut. Denn: Tote bluten nicht.«
Menandros senkte erschüttert den Blick.
»Offensichtlich wurde Jeschua gewaschen, denn die Wunden sind nicht blutverschmiert, sondern sehr deutlich zu erkennen. Und nach der Waschung hat er immer noch geblutet«, erklärte mein Bruder. »Man erkennt große Blutlachen zwischen den Falten. Das Blut floss nicht nur aus den niedrig gebetteten Fußwunden, sondern auch aus den Verletzungen an den Händen, die über seiner Mitte gekreuzt waren, und sogar aus den Wunden, die die Dornenkrone auf seiner Stirn aufgerissen hatte.
Der durchgehende Abdruck seines Körpers auf dem Tuch lässt darauf schließen, dass er auf einer weichen Unterlage lag – ganz bestimmt nicht auf einer harten Steinbank in einem Felsengrab, wie es die Evangelisten beschrieben. Die Arme lagen nicht neben dem Körper, sondern waren locker über der Mitte verschränkt, was nur auf einer weichen Unterlage mit Kissen möglich ist, wo die Schultern und Ellbogen Halt finden.
Zudem muss Jeschuas Kopf erhöht auf einem Kissen gelegen haben, denn das Blut tropfte nicht über die Stirn nach oben in die Haare, sondern lief nach unten zu den Augenbrauen. Diese Stirnverletzung befand sich an der höchstgelegenen Stelle des Körpers – oberhalb des Herzens! –, und trotzdem blutete sie.
Wäre Jeschua wirklich am Kreuz gestorben, hätte nach dem Herausziehen der langen Nägel die bereits eingetretene Totenstarre mit Gewalt gebrochen werden müssen, um die Arme in die gekreuzte Position zu bringen – doch Jeschua scheint ganz entspannt im Tuch zu liegen. Im Opiumrausch.
Und das alles bedeutet: Sein Herz
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