Die Evangelistin
»Im Talmud findet sich kein Wort von ihm. Aber Joseph war ein Zaddik, ein Gerechter. Zwei seiner fünf Söhne trugen denselben Ehrennamen: Rabbi Jeschua und Rabbi Jakob. Und – welche Überraschung! – es gibt zwei weitere Bar-Rabbans in der Apostelgeschichte: einen Joseph, der ebenfalls ein Zaddik war, und einen Jehuda, der eine führende Rolle in der nazoräischen Gemeinde spielte. Das sind Jeschuas Brüder Joseph und Jehuda.
Die Vermutung liegt nahe, dass ihr Vater Joseph ein Rabbi war, der seine Söhne lehrte. Ich habe meinen Sohn auch selbst unterrichtet – nach der Vertreibung der Juden gab es außer mir keinen anderen jüdischen Schriftgelehrten in Granada. Benjamin wollte Rabbi werden … wie ich.«
Celestina ergriff meine Hand und drückte sie.
»Die Wahl zwischen Jeschua und Jeschua während des römischen Prozesses ist eine Szene, die an Tragik kaum noch zu überbieten ist. Die Juden verwerfen Jeschua, den Messias, auf den sie schon so lange warten und den sie nicht erkannt haben, den Sohn Gottes, den Erlöser der Welt. Stattdessen feiern sie ausgelassen Jeschua, den Rebellen, Räuber und Mörder. Wenn das nicht ihre Uneinsichtigkeit und Verworfenheit beweist!«
Ich seufzte.
»Diese erschütternde Szene ist einer der Gründe, warum Juden in der christlichen Welt verfolgt, vertrieben, gedemütigt, misshandelt, durch die Inquisición bedroht, ihres Glaubens, ihres Besitzes und ihrer Rechte als Menschen beraubt und ermordet werden. Im Namen Jeschuas – ihres jüdischen Bruders und ihres Königs, um dessen Freiheit und um dessen Leben sie Pilatus doch gerade angefleht hatten!
Das ist die wirkliche Tragik dieser Szene!«
»… und dann führen die römischen Soldaten den gefesselten Jeschua ins Praetorium im Hof der Burg Antonia, um ihn zu geißeln«, erzählte David am nächsten Morgen an meiner Stelle.
Mein Bruder verehrte Jeschua, und sein Schicksal berührte ihn sehr. Deshalb hatte er mich gebeten, vor Celestina und Menandros über die Geißelung, die Kreuzigung und die Grablegung sprechen zu dürfen.
Nach der Besichtigung des Grabtuches in der Schlosskapelle von Chambéry vor fünf Jahren hatten mein Bruder und ich immer wieder über die Kreuzigung gesprochen. Und über das, was danach geschehen war.
»Im Hof, vor der versammelten Menge, reißen sie ihm die prächtigen Purpurgewänder vom Leib, die er anlässlich der Verlesung des Königsgesetzes im Tempel wenige Stunden zuvor angelegt hatte. Nackt und gedemütigt wird er an eine Säule gebunden.«
David trat vor das Bücherregal, neigte sich vor und lehnte sich mit beiden Händen gegen die Bretter.
»So bietet er seinen Rücken ihren Schlägen dar«, erklärte er und richtete sich wieder auf. »Zwei Männer schlagen mit römischen Geißeln auf ihn ein, bis sein Rücken zerfetzt ist.
Im Gegensatz zur jüdischen Bestrafung, bei der es nur eine begrenzte Anzahl von Schlägen gibt, ist die römische Geißelung eine furchtbare Tortur. Es wird so lange geschlagen, bis entweder die Folterknechte ermüden und die Lust an der Quälerei verlieren oder das Fleisch des Verurteilten in blutige Fetzen gerissen ist.«
Celestina, die neben mir am Schreibtisch saß, verzog das Gesicht, als ob Davids Worte ihr körperliche Schmerzen zufügten.
»Eine solche Geißelung konnte tödlich enden. Flavius Josephus bekennt, er selbst habe Menschen geißeln lassen, bis ihre Eingeweide herausquollen. Einen anderen ließ er zerfetzen, bis die Knochen zu sehen waren.«
»Mein Gott!«, flüsterte Menandros entsetzt.
David holte tief Luft. »Die Geißelung ist nur der Anfang, Menandros. Du solltest die Folterkammern der Inquisición in Córdoba besuchen und dir die Instrumente ansehen. Höre die Schreie der Gequälten, das Stöhnen, das erlöste Seufzen, wenn die Agonie zu Ende geht, das befreite Aufatmen vor der nächsten Tortur. Berühre ihre gequälten, zerbrochenen, zerfetzten, blutenden Körper, wenn sie aus der Folterzelle getragen werden, weil sie nicht mehr selbst laufen können. Und sieh in ihre schmerzverzerrten Gesichter, wenn du es übers Herz bringst. Sieh in ihre Augen, Menandros, wie ich nach der Folter in Sarahs und Benjamins Augen geblickt habe! Dann weißt du, wozu der Mensch fähig ist.«
Tief bewegt erzählte David weiter:
»Jeschua wird von zwei Männern gegeißelt, die hinter ihm stehen und abwechselnd auf ihn einschlagen. Die spitzen Enden der römischen Geißeln graben sich mit jedem Schlag tief in seine Brust, seine Schultern, seinen
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