Die Evangelistin
verlassen, um zum Grab zu gehen und Jeschua zu salben. Trauernde verlassen das Haus nicht. Freunde und Verwandte besuchen sie, bringen ihnen Speisen und die Tora-Rolle aus der Synagoge und halten sogar die Gottesdienste in ihrem Haus ab.
Die Salbung am Ostersonntagmorgen, von der die Evangelisten berichten, ist völlig absurd, denn sie hätte am Schabbat vollzogen werden können – und was taten eigentlich Joseph und Nakdimon im Felsengrab, wenn sie Jeschua nicht salbten?
Wäre das Grabtuch mit einem toten Jeschua begraben worden, wäre es doch mit ihm verwest – aber es existiert noch! Und selbst wenn es später aus dem Grab geholt wurde, wäre es für Juden rituell unrein. Doch es wurde aufbewahrt und in Ehren gehalten! Sonst wäre es in den letzten eintausendfünfhundert Jahren doch längst verloren und vergessen.
Das alles bedeutet: Es haben keine jüdischen Begräbnisriten stattgefunden. Es gab ein leeres Kreuz, aber nie ein leeres Grab.«
»Was ist wirklich geschehen?«, fragte Celestina atemlos.
»Jeschua wurde während der Nacht nach Bethanien ins Haus seines Schwagers Eleasar gebracht und dort von Mirjam gesund gepflegt.«
»Konnte er sich nach drei Tagen von seinen Verletzungen erholt haben?«, fragte sie David, der entschieden den Kopf schüttelte.
»Auch wenn Jeschuas Lebenswille nicht gebrochen war und er mit einundvierzig Jahren gesund und kräftig gewesen ist, hätte die Heilung der schweren Verletzungen viele Wochen gedauert. Vermutlich hatte er wegen der infizierten Wunden hohes Fieber und war tagelang bewusstlos.
Die Nagelwunden an Händen und Füßen müssen ihm furchtbare Schmerzen bereitet haben. Ich bezweifle, ob er jemals wieder gehen konnte, ohne zu hinken, oder die Hände gebrauchen konnte.
Auf dem Grabtuch sind die Daumen nicht zu sehen. Die Nägel in den Handgelenken haben vermutlich einen Nerv oder eine Sehne durchtrennt, sodass er die Daumen nicht mehr bewegen konnte. Vielleicht waren seine Hände völlig gefühllos. Mit anderen Worten: Es war für ihn sehr schwierig, während des Gottesdienstes eine Tora-Rolle aus dem Schrein zu heben, und er war ganz sicher nicht mehr in der Lage, eine Schreibfeder oder ein Schwert zu halten.«
Ein bedrücktes Schweigen folgte.
»Wenn also Jeschua die Kreuzigung überlebt hat«, begann Menandros schließlich. »Was ist dann mit der Erlösung, die er durch seinen Sühneopfertod am Kreuz bewirkt haben soll? Denn wenn Jeschua nicht auferstanden ist, dann ist, wie Paulus schrieb, der christliche Glaube sinnlos.«
»Du weißt doch, Elija: Engel und Propheten kann niemand aufhalten!«, wisperte sie Stunden später mit funkelnden Augen, als sich die Tür des Appartamento Ducale hinter uns schloss.
Verstohlen tastete Celestina nach meiner Hand, während zwei Diener mit Kerzenleuchtern voranschritten und uns die Treppen hinableuchteten. Hand in Hand folgten wir ihnen hinunter bis in den von Fackeln erleuchteten Innenhof des Dogenpalastes.
Das Abendessen mit dem Dogen war ein Erfolg gewesen!
Während des Mahls hatte Celestina Leonardo Loredan von unserer gemeinsamen Arbeit und dem Buch erzählt, das ich nach der Übersetzung schreiben wollte: einen Midrasch, einen rabbinischen Kommentar zum Neuen Testament – in hebräischer und lateinischer Sprache.
Begeistert von dieser Idee hatte mich der Doge gefragt, ob wir beabsichtigten, das Buch in Venedig drucken zu lassen.
»Wie viele Juden könnten mit dem Buch eines Rabbi mit Eurem Namen zum Wahren Glauben bekehrt werden!«, hatte er schließlich geseufzt, als alle Fragen zu seiner Zufriedenheit beantwortet waren. »Solltet Ihr bei Eurem großartigen Vorhaben die Unterstützung der Republik San Marco oder des Consiglio dei Dieci benötigen, lasst es mich wissen! Als Doge werde ich alles tun, was in meiner Macht steht. Das Wohl und das Seelenheil unserer jüdischen Mitbürger liegen uns in Venedig, anders als in Kastilien und Aragón, sehr am Herzen!«
Celestinas Augen funkelten, als wir Hand in Hand die Stufen hinabschritten. Ich spielte mit dem gläsernen Ring an ihrem Finger, den ich ihr in Murano gekauft hatte.
An der Treppe im Hof warteten wir, bis zwei Diener unsere Pferde geholt hatten, dann half ich ihr in den Sattel. Nebeneinander trabten wir durch die Porta della Carta hinaus auf die Piazzetta.
Als wir an der Basilika um die Ecke bogen und aus dem Blickfeld der Wachen vor dem Tor des Dogenpalastes entschwunden waren, drängte sie ihren Hengst so dicht neben meinen, dass sich unsere
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