Die Evangelistin
schlug noch – Jeschua lebte .«
Celestinas Blick schweifte von David zu mir. »Und was, denkt ihr, ist wirklich geschehen?«
»Ich glaube«, erwiderte ich, »dass Jeschua schon sehr bald nach dem Lanzenstich, durch den man seinen Tod feststellen wollte, vom Kreuz genommen wurde. Irgendwann in der Nacht des hereinbrechenden Schabbat. Dass Joseph von Arimatäa und Nakdimon ben Gorion den römischen Präfekten dazu überreden konnten, den Gekreuzigten freizugeben, halte ich für unsinnig. Die von Aasfressern zerfetzte und langsam am Kreuz verwesende Leiche des Königs der Juden war doch gerade Pilatus’ wertvollste Waffe im Kampf gegen die rebellischen Anhänger Jeschuas. Nein, ich glaube, dass der Körper während der Nacht vom Kreuz abgenommen und in aller Eile nach Bethanien geschafft wurde.«
»Nicht ins Grab?«, fragte Celestina überrascht.
»Nein, in welches Grab denn?«, gab ich zurück. »In Josephs neues Grab, in das noch nie jemand gelegt worden war? Er stammte doch angeblich aus Arimatäa! Wieso sollte Joseph ein Grab in Jeruschalajim haben, nicht in der Stadt seiner Väter?«
»Das weiß ich nicht«, gestand sie.
»Ich auch nicht«, entgegnete ich. »Die Geschichte vom leeren Grab ist eine Legende, die die Evangelisten immer weiter ausgeschmückt haben. Josephs Bitte an Pilatus, ihm Jeschuas Leichnam für ein ehrenvolles Begräbnis zu überlassen, ist völlig unsinnig. Die verwesenden Leichen hingerichteter Rebellen wurden tagelang am Kreuz hängen gelassen – zur Abschreckung. Dann hat man ihre sterblichen Überreste über die Felsen geworfen. Keiner von ihnen wurde begraben.
David kann sich als Medicus beim besten Willen nicht vorstellen, was Joseph und Nakdimon mit der vielen Myrrhe und Aloe anfangen wollten, von der Johannes spricht!«
Mein Bruder nickte. »Hundert Pfund Aloe und Myrrhe – das sind mehrere schwere Säcke voller Heilkräuter, die nicht als Salben oder Tinkturen zubereitet waren. Derartige Mengen Kräuter wurden bei jüdischen Begräbnissen nicht verwendet – die Toten wurden ja nicht einbalsamiert wie ägyptische Mumien!«, erklärte David. »Laut Hippokrates dient Myrrhe allerdings als Mittel zur Desinfektion von Wunden.«
»Zu den jüdischen Begräbnisriten gehört eine Waschung des Toten«, fuhr ich fort. »Die sterblichen Überreste werden in feierlicher Stille mit warmem Wasser gewaschen. Anschließend findet die rituelle Reinigung statt: Man begießt den Toten drei Mal mit Wasser, während ein Gebet gesprochen wird: ›Denn an diesem Tag geschieht eure Entsühnung: Von all euren Sünden werdet ihr rein sein vor Adonai, unserem Herrn.‹ Dann wird der Verstorbene in ein weißes Totengewand gekleidet, das er jedes Jahr am Versöhnungstag Jom Kippur übergezogen hatte. Sein Tallit, den er täglich zum Gebet getragen hatte, wird ihm umgelegt. Die Zizit, die Merkfäden an den Enden des Tallit, die den Menschen erinnern sollen, dass er ein Kind Gottes ist, werden abgeschnitten.
Die Angehörigen und Freunde begleiten den Toten an seine letzte Ruhestätte. Während des Weges zum Grab wird ein Vers aus dem Buch Daniel zitiert: ›Du wirst ruhen und auferstehen am Ende der Tage.‹ Am Grab reißen die engsten Angehörigen ihre Kleider ein und zitieren Ijob: ›Der Herr hat gegeben, und der Herr hat genommen. Der Name des Herrn sei gepriesen!‹. Nachdem die Trauernden einen Psalm gesungen haben, wird das Kaddisch gebetet. Das Kaddisch ist eigentlich kein Gebet, sondern eine Hymne an Gott. Das Kaddisch am Todestag beginnt mit den Worten: ›Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt, die neu geschaffen werden soll, wo er die Toten zurückrufen und ihnen ewiges Leben geben wird.‹
So hat mein Freund Jakob vor einigen Tagen den kleinen Moses Rosenzweig begraben. Und so haben wir alle um dieses Menschenkind getrauert, als es auf dem jüdischen Friedhof am Lido in sein Grab gelegt wurde.
In den Evangelien lese ich nichts über eine Totenwaschung oder Salbung, die – und hier irrten die Evangelisten! – auch am Schabbat hätte vorgenommen werden können.« Ich wies auf den Talmud. »Nachzulesen im Trakat Schabbat. Und in den Evangelien höre ich nichts über das Totengewand, den Tallit, das Kaddisch-Gebet, die Gedenkfeier am Grab oder über die Trauerwoche der engsten Angehörigen.
Trauerte denn niemand außer Joseph und Nakdimon?
Wenn Jeschua wirklich gestorben wäre, hätten Jeschuas Mutter und seine Gemahlin während der Trauerwoche nicht das Haus
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