Die Evangelistin
abhalten, sich erneut gegen die Weltmacht Rom zu erheben! Wie viele von diesen Möchtegern-Königen hat Rom schon ans Kreuz geschlagen? Offenbar noch immer nicht genug! Rom beherrscht die Welt, und die Provinz Judäa gehört zum Imperium Romanum. Daran wird auch ein König Jeschua nichts ändern!
Jeschua erkennt, dass sein Schicksal besiegelt ist.
Er wird festgenommen. Seine Hände werden gefesselt. Er wird abgeführt, durch das Tal des Kidron zum Tempelberg, wo die vom Fackelschein hell erleuchtete Burg Antonia über der Stadt in den Nachthimmel ragt.«
Ich verstummte.
Menandros starrte mich mit glänzenden Augen an, als wäre er gerade eben aus einem Traum erwacht. »Und der jüdische Prozess* vor dem Sanhedrin …?«
»… hat nie stattgefunden«, erklärte ich. »Weder gab es eine Untersuchung durch den ehemaligen Hohen Priester Hannas ben Sethi, den Pontius Pilatus’ Amtsvorgänger Valerius Gratus rund fünfzehn Jahre zuvor abgesetzt hatte, noch hat der wenige Stunden zuvor von Jeschua abgesetzte Joseph ben Kajafa Jeschua in seinem Haus empfangen. Wenn er ihn vor der Kreuzigung am nächsten Morgen überhaupt gesehen hat, dann im Hof der Burg Antonia, wo Jeschua durch den römischen Präfekten, seinen guten Freund Pontius Pilatus, verurteilt wurde.«
»Aber …«, rang Menandros nach Worten. »… die nächtliche Sitzung des Sanhedrin …«
»… wurde niemals einberufen«, sagte ich. »Wozu auch? Die Verurteilung eines Rebellen gegen Rom lag nicht in der Kompetenz dieses jüdischen Gerichts. Im Übrigen wäre eine solche Sitzung des Sanhedrin eine grobe Missachtung aller geltenden Richtlinien für die Durchführung von Prozessen.«
Ich erhob mich, zog einen Band meines zwölfbändigen Talmud aus dem Bücherregal und legte ihn aufgeschlagen vor Menandros auf den Tisch. »Nachzulesen im Traktat Sanhedrin, wo alles ausführlich beschrieben ist.«
Als Menandros schweigend den Talmud wieder zuklappte – er konnte kein Hebräisch lesen –, fuhr ich fort:
»Am frühen Morgen wurde Jeschua gefesselt zum Praetorium gebracht, dem Amtssitz des römischen Präfekten in der Burg Antonia. Dort wurde er brutal misshandelt, blutig gegeißelt und dann in einem öffentlichen Prozess, der seine rebellischen Anhänger abschrecken sollte, zum Tod am Kreuz verurteilt.
Der römische Prozess ist eine dramatische Inszenierung der Evangelisten, die fast gänzlich aus Zitaten des Tenach, der hebräischen Bibel, besteht: Die Schläge ins Gesicht und das Anspucken erinnern an Jesajas leidenden Gottesknecht. Die Verhöhnung stammt aus dem zweiundzwanzigsten Psalm, der mit den Worten beginnt: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‹«
Menandros zog scharf die Luft ein, als wollte er etwas sagen. Aber er schwieg.
»Bei der Schilderung des Verhaltens der Juden im Praetorium hat man aus dem einunddreißigsten Psalm abgeschrieben: ›Indem sie sich miteinander gegen mich zusammentun, sinnen sie darauf, mir das Leben zu nehmen.‹ Und bei näherem Nachdenken fällt mir noch ein Psalm ein: ›… und Fürsten tun sich zusammen gegen den Herrn und Seinen Gesalbten.‹
Pilatus’ Worte ›Ich wasche meine Hände in Unschuld‹ wurden übrigens dem sechsundzwanzigsten Psalm entnommen. Ich bezweifele ernsthaft, dass dieser Judenhasser König Davids Lied kannte.«
»Gab es den Brauch, zum Pessach-Fest einen Gefangenen freizulassen?«, fragte Celestina.
Ich schüttelte den Kopf. »Die rabbinische Literatur kennt keinen solchen Brauch. Das römische Recht verbietet ausdrücklich die Einstellung eines Strafverfahrens und die Begnadigung eines rechtmäßig Verurteilten ohne die Genehmigung des Kaisers. Wenn Pilatus dem Wunsch der Juden entsprochen und einen gefährlichen Rebellen freigelassen hätte, wäre er von Tiberius seines Amtes als Präfekt von Judäa enthoben worden. Und warum hätte er ausgerechnet Barabbas freilassen sollen, da er doch noch zwei andere Zeloten gefangen hatte, die später zusammen mit Jeschua gekreuzigt wurden.«
»Dann sind also die Rufe der Juden nach Jesus Barabbas und dessen Freilassung nur eine Erfindung der Evangelisten! Hat Jesus Barabbas jemals gelebt?«
»Jeschua und Jeschua bar-Rabban sind ein und derselbe Mann.«
Sie stutzte. »Bar-Rabban …?«
»… ist Aramäisch und bedeutet Sohn des Rabban«, erklärte ich ihr. »Rabban ist der Titel eines großen rabbinischen Gelehrten.«
»Du glaubst, dass Jeschuas Vater ein großer Rabbi war?«
»Ich weiß es nicht«, gestand ich ehrlich.
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