Die Evangelistin
gaben den christlichen Kapitänen ihren ganzen Besitz, damit sie auf ihren Schiffen in die Freiheit segeln konnten. Sie würden völlig mittellos in ihrer neuen Heimat ankommen. Aber trotzdem lächelten sie glücklich, wenn sie sich über die Reling lehnten und uns Zurückbleibenden zuwinkten.
Unser Vater ließ vielen Familien mit Alten und Kranken und kleinen Kindern, die nach uns im Hafen angekommen waren, den Vortritt. Beharrlich wartete er auf sein Schiff, das ihn nach Alexandria bringen sollte. Und so hockten wir Tag für Tag am Kai, starrten auf das Meer hinaus und beobachteten sehnsüchtig die Schiffe, die ablegten und mit Hunderten Juden aufs Meer hinausfuhren, um sie in ihre neue Heimat zu bringen.
Die Estrella war ein solches Schiff, ein spanischer Segler, der nach Istanbul auslief, denn dem osmanischen Sultan Bajazet waren die vertriebenen Juden sehr willkommen – er soll gesagt haben: ›Ihr nennt Fernando, der sein Land arm und mein Land reich gemacht hat, einen weisen König?‹
Ich kann mich noch erinnern, wie David, Aron und ich am Kai standen und wehmütig der Estrella nachsahen. Wie gern wären wir auch endlich aufgebrochen, aber es schien, als säßen wir im Hafen von Málaga fest. Der 9. Aw rückte immer näher.«
»O mein Gott!«, flüsterte sie atemlos.
»Ja, Celestina, so dachte ich auch zuerst. Ich, der angehende Rabbi, warf Adonai vor, uns verlassen und vergessen zu haben. Aber der Herr hatte uns nicht vergessen. Ganz im Gegenteil: Er hatte uns beschützt. Denn am nächsten Morgen, ganz früh, noch bevor die Sonne aufging, war die Estrella wieder da. Da lag sie am Kai vertäut, als wäre sie nicht gestern erst nach Istanbul in See gestochen. Kein Jude war mehr an Bord. Das Gepäck, die Truhen und Säcke, lag aber noch aufgestapelt an Deck und wurde eilig an Land gebracht, damit weitere hundert Juden an Bord gehen konnten. Nach Istanbul. Da überfiel mich eine furchtbare Ahnung …«
Erschüttert schlug sich Celestina die Hand vor die Lippen. »Sie waren …«
»… auf hoher See über Bord geworfen worden. Sie waren tot.«
»Mein Gott!«
»Wir beschlossen, Málaga auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Im Hafen hatten wir neun kostbare Tage vergeudet. Der 9. Aw rückte immer näher. Wohin sollten wir gehen? Nach Portugal! Aber die Grenze war weit. Wir fanden keine Reittiere, nicht einmal einen Esel für unser Gepäck. Den ganzen Weg bis Sevilla und dann weiter bis zur portugiesischen Grenze gingen wir zu Fuß. Wir marschierten Tag und Nacht, denn wir hatten keine Zeit mehr zu verlieren. Wir rasteten nur, um zwei oder drei Stunden zu schlafen und aßen und tranken im Gehen. In jenen furchtbaren Tagen und Nächten bekam für uns das Wort Exodus, in dessen Andenken wir jedes Jahr das Pessach-Fest feiern, eine ganz neue Bedeutung.
Bei Sevilla stießen wir auf jüdische Flüchtlinge, die wie wir nach Portugal wollten. Viele lagerten am Wegesrand, zu erschöpft, um weiterzugehen. An der Straße standen christliche Priester, die sich erboten, uns für eine Hand voll Maravedís zu taufen. Sie hielten uns fertige Taufscheine unter die Nase – nur unsere Namen mussten noch eingesetzt werden. Viele ließen sich taufen und weinten dabei, als würde ihnen die Seele fortgerissen werden. Es war furchtbar!«
Ich schwieg einen Augenblick, überwältigt von meinen Erinnerungen an die Verzweifelten und Erschöpften … an die hoffnungslosen Blicke, die sie mir zuwarfen, als ich mich neben sie kniete, um ihnen aufzuhelfen, und sie bat, doch weiterzugehen und nicht aufzugeben … an die tiefe Resignation, die sie zur christlichen Taufe trieb. Ich hatte geweint, als ich wieder aufgestanden war, um diese Seelenqualen Leidenden hinter mir zurückzulassen.
Und da waren noch die anderen Erinnerungen, die grausigen Entdeckungen am Straßenrand: aufgeschlitzte Leichen. In den letzten Tagen vor der Vertreibung hatte sich das Gerücht verbreitet, wir Juden hätten Gold und Diamanten verschluckt, um unsere Reichtümer über die Grenze zu schmuggeln. Wegen dieser vermeintlichen Schätze wurden viele Juden überfallen und wie Vieh abgeschlachtet.
Dann fasste ich mich wieder:
»Am 8. Aw, einen Tag bevor wir Spanien verlassen mussten, hörten wir, dass Portugal die Grenzen geschlossen hatte. Zu viele Juden wären nach Portugal geflohen: Einhundertzwanzigtausend sollen es angeblich gewesen sein. König João war nicht gewillt, noch mehr ins Land zu lassen.«
»O Gott!«, seufzte Celestina.
»Was würde
Weitere Kostenlose Bücher