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Die Evangelistin

Die Evangelistin

Titel: Die Evangelistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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geschehen, wenn wir Spanien nicht rechtzeitig verlassen konnten? Die Angst trieb uns vorwärts. Wir stolperten weiter, hoffend und betend. Wir wussten nicht, wohin wir sonst gehen sollten.
    Am späten Nachmittag des 9. Aw erreichten wir nach einem Gewaltmarsch endlich die portugiesische Grenze. Wir waren völlig erschöpft. Unser Vater konnte sich kaum noch auf den Beinen halten – David und ich stützten ihn und trugen ihn über die Grenze. Und wir zahlten einen hohen Preis dafür: fast alles Gold, das wir noch besaßen, für eine Aufenthaltserlaubnis von nur wenigen Monaten. Und dann zahlten wir einen noch viel höheren Preis: Unser Vater starb nur wenige Stunden später.«
    Celestina sah mich betroffen an. »Das tut mir sehr Leid, Elija … David.«
    »Der 9. Aw ist ein jüdischer Trauertag. An jenem Tag wurde der Tempel zum zweiten Mal zerstört. Und unser Vater starb an diesem Tag. Er starb an der Erschöpfung von dem Gewaltmarsch quer durch Al-Andalus. Und an der Hoffnungslosigkeit, dem Gefühl, alles verloren zu haben, wofür er sein Leben lang gekämpft hatte.«
    David hatte Tränen in den Augen, als er an meiner Stelle weitererzählte:
    »Wir haben unseren Vater in Portugal begraben. An der Straße nach Serpa. Wir haben unsere Gewänder zerrissen, getrauert und gebetet. Für die Schiwa, die sieben Trauertage nach dem Tod unseres Vaters, hatten wir während unserer Flucht keine Zeit. Elija, Aron und ich haben die ganze Nacht beratschlagt, was wir nun tun wollten. Wir besaßen nichts mehr, bis auf eine Hand voll Maravedís. Wie sollten wir uns bis Lissabon durchschlagen, oder bis Coimbra? Und selbst wenn wir es bis Coimbra schafften und Elija dort eine Stelle an der Universität annehmen konnte, was dann? Elija war sechzehn, ich vierzehn und Aron elf. Wir hatten keine Verwandten in Portugal, bei denen wir unterkommen konnten. Wir hatten nichts.
    Mit seinem letzten Atemzug hatte unser Vater uns beschworen, uns niemals zu trennen, um einander beschützen zu können. Jedem von uns nahm er in seiner letzten Stunde dieses Versprechen ab.« David warf einen langen Blick auf Arons leeren Stuhl. »Dann starb er mit dem Schma Israel auf den Lippen. In jener Nacht beschlossen wir umzukehren.«
    »Umzukehren?«, flüsterte Celestina ungläubig.
    David nickte. »Was sollten wir in Portugal? Wir hatten kein Geld, sprachen kein Portugiesisch und würden keine Arbeit finden. Elija hatte mit sechzehn seine Ausbildung zum Rabbi noch nicht beendet, ich hatte mit vierzehn mein Studium der Medizin noch nicht einmal begonnen, und Aron war ja noch ein Kind. Und nach einem halben Jahr hätten wir ohnehin das Land verlassen müssen. Es hatte also keinen Sinn, in Lissabon oder Coimbra oder Porto auf Cristóbal Colóns Rückkehr zu warten und zu hoffen, dass er das ersehnte Reich Israel in Asien gefunden hatte – denn an eben diesem Tag, am 10. Aw 5252, stach er von Palos aus doch erst in See! Wie sollten wir denn in Portugal überleben?
    Wir wanderten also am nächsten Tag weiter bis zur Stadt Serpa, die einige Meilen weiter westlich lag. Am Abend erreichten wir erschöpft den Hauptplatz. Gerade wollte der Priester das Portal der Kirche Santa Maria abschließen und nach Hause gehen, als Elija ihn aufhielt. Für unsere restlichen Maravedís hat er uns noch am 10. Aw getauft.«
    Celestina blickte mich stumm an.
    »Bevor die Tinte auf den Taufscheinen trocken war, machten wir uns auf den Rückweg nach Granada«, erzählte David weiter. »Wir waren nicht mehr Elija, David und Aron Ibn Daud. Elija hieß nun Juan de Santa Fé, Aron war Fernando, und ich selbst nannte mich Diego.«
    »Santa Fé?«, fragte Celestina erstaunt. »›Der heilige Glaube‹ als Familienname?«
    David verzog die Lippen. »Wir haben uns in Portugal taufen lassen, doch niemals unseren jüdischen Glauben abgelegt: Den Santa Fé haben wir behalten.«
    »Das ist …« Celestina sah mich an. »Das ist so tragisch, dass es schon … bitte verzeih mir! … dass es schon wieder komisch ist. Du bist also Juan de Santa Fé. Ein getaufter Christ!«
    »Ich bin Elija ben Eliezar Ibn Daud. Ein Jude, der niemals aufhören wird, nach den Geboten zu leben, die Adonai uns gegeben hat.«
    »Aber du bist getauft!«
    »Ein Priester hat ein christliches Reinigungsritual an mir vollzogen, das für mich keine Bedeutung hat«, erwiderte ich. »Für eine Hand voll Gold hat er mir eine Hand voll Wasser gegeben. Es wäre ein schlechtes Geschäft gewesen, wenn wir nicht mit den paar Münzen,

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