Die Evangelistin
Benjamin de Tudela, der hundert Jahre vor Marco Polo von Navarra über Rom und Jeruschalajim nach Osten reiste, berichtete von einem jüdischen Reich im Jemen mit befestigten Städten und mehreren Hunderttausend Einwohnern, das von einem Fürsten aus dem Hause Davids regiert wurde. Und er erzählte von den Nachkommen von vier Stämmen, die in den Bergen Persiens leben sollen. Sie wurden nicht von Ungläubigen beherrscht, schrieb Benjamin, sondern hatten einen eigenen Fürsten. Flavius Josephus berichtete, dass Juden bis nach Indien gezogen sind. Und Marco Polo wusste von Juden in China.
Viele von uns glaubten, dass es sich bei diesen Juden um die zehn verlorenen Stämme Israels handelte, die nach der Verschleppung ins Assyrische Exil nach Osten gezogen waren. Und wir hofften, diese ›verlorenen Schafe Israels‹ hätten ein Reich gegründet, wo sie in Frieden und Freiheit lebten.
Cristóbal Colón – der mallorquinisch-jüdische Converso – war also in See gestochen, um ein jüdisches Reich zu suchen, wohin wir spanischen Juden gehen konnten, um der Verfolgung, der Folter und der Inquisición zu entkommen. Ohne die großzügige Unterstützung der spanischen Juden mit jüdischem Geld, mit jüdischen Seekarten aus Mallorca und einer entschlossenen jüdischen Intervention bei Isabel und Fernando hätte Colón niemals am 10. Aw den Hafen von Palos verlassen, um das Paradies zu suchen. Niemals!«
»Aber Cristoforo Colombos Expedition war eine christliche Missionsreise! Die Einwohner der neu entdeckten Länder sollten getauft werden und …«
»Dann hätte er vielleicht einen christlichen Priester mitnehmen sollen!«, unterbrach ich sie. »Es war aber kein Priester an Bord der drei Schiffe. Nicht einmal, um während der wochenlangen Überfahrt am Sonntag auf der Santa Maria die Messe zu lesen. Seltsam, nicht wahr?«
»Aber …«, zweifelte sie noch immer, »… Colombos Reise war eine Entdeckungsfahrt zur Erschließung neuer Handelsrouten. Colombo ist nach Westen aufgebrochen, um China zu finden – so wie Vasco da Gama nach Süden um das Kap der Guten Hoffnung gesegelt ist, um Indien zu erreichen. Venedig steht vor dem Ruin, weil nun Lissabon der führende Seehafen Europas ist und die Gewürzpreise des Rialtomarktes um vier Fünftel unterbietet.«
»Wenn Colón wirklich China oder Indien erreichen wollte, wäre es dann nicht sinnvoll gewesen, einen Übersetzer für Hindi und Chinesisch mitzunehmen? Oder zumindest einen Dolmetscher für die arabische Sprache? Der Converso Luis de Torres, der einzige Dolmetscher an Bord, war sein Übersetzer für Hebräisch ! Ehrlich gesagt, mich amüsiert der Gedanke, dass die Eingeborenen der von Colón entdeckten Inseln zuerst nicht auf Spanisch oder Lateinisch oder Chinesisch angesprochen wurden, sondern auf Hebräisch.«
Celestina wusste nicht, was sie sagen sollte.
Die Vision vom neuen Reich Israel war gescheitert. Cristóbal Colón hatte zwar vor dreiundzwanzig Jahren das Paradies entdeckt, doch nun war es verloren. Die Indianer starben zu Tausenden an den Krankheiten, die die Spanier eingeschleppt hatten, an Verzweiflung und an Erschöpfung durch die harte Sklavenarbeit in den Plantagen. Was war vom Paradies geblieben? Nur ein Traum: mein Traum. Ich würde mein Buch schreiben. Und ich würde es Das verlorene Paradies nennen. Weil der Traum zu schön war, um ihn aufzugeben. Denn was bleibt dem Menschen, der schon alles verloren hat, wenn er am Ende auch noch seine Träume verloren gibt?
»Mit einer großartigen Vision im Gepäck ritten wir also von Granada nach Málaga«, erzählte ich weiter. »Wir verkauften unsere Maultiere und gingen zum Hafen, um uns auf einem Segler nach Alexandria einzuschiffen. Aber unsere Reise endete am Kai von Málaga.«
»Warum?«, fragte sie bestürzt. »Was war geschehen?«
»Der Hafen war völlig überfüllt. Hunderte Juden saßen auf ihren Truhen und Bündeln und warteten verzweifelt auf ein Schiff, das sie aus Spanien fortbringen würde, gleichgültig wohin: Lissabon, Marseille, Genua, Alexandria oder Istanbul.
Der Landweg über die Pyrenäen nach Frankreich war viel zu weit, um es bis zum 9. Aw noch zu schaffen. Die Preise für die Schiffspassagen stiegen von Stunde zu Stunde, während wir auf die Ankunft eines Seglers warteten. Wenn ein Schiff in den Hafen einlief, war das Gedrängel am Kai so groß, dass viele ins Wasser fielen. Selbst die ältesten Boote, halb zerfallen und verfault, wurden hoffnungsvoll bestiegen. Viele Juden
Weitere Kostenlose Bücher