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Die ewige Bibliothek

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Titel: Die ewige Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Ruhe, unterdrückte einen Schrei und richtete statt dessen das Wort an das Obskuro-Publikum: »Ich bin Hagen, und zu herrschen ist mein Schicksal! Ich bin der reine Sohn, ich bin der wahre Sohn, und du sollst mich nicht bezwingen, Siegfried!«
    »Wa…? Siegfried? Galen, ich bin’s – Michael Langbein.«
    »Nein«, sagte Galen und schüttelte müde den Kopf. »Zu täuschen suchst du, wie Odin, doch ich kenne dich. Sag es – sag deinen Namen.«
    Michael ließ seinen Blick über die reichen Europäer und Amerikaner gleiten, die noch immer nicht ahnten, warum die Vorführung aus der Spur geraten war, und er kam zu dem Entschluss, dass es wahrscheinlich am wenigsten störend wirken würde, wenn er mit dem Strom schwamm, um die Dinge in den Griff zu bekommen. Zumindest befand sich Galens Schwert noch immer in der Scheide.
    »Also gut, also gut«, sagte er und trat näher an Galen heran. »Ich bin Siegfried.«
    »Ruf es aus!«
    »Ich bin Siegfried!«, schrie Michael.
    »Ich beanspruche den Schatz!«, antwortete Galen. »Ich werde ihn besitzen, Siegfried!«
    »Gut, von mir aus«, sagte Michael, den der Widerhall seiner Worte im gesamten Festspielhaus verlegen machte. Er hatte nicht erwartet, in dem Gebäude mit der besten Akustik Europas lauthals zu streiten.
    Galen entspannte sich, als sei er ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Das war es wohl, was er gewollt hatte, dachte Michael. Noch jemand hier oben auf der Bühne, der seine Phantasie wirklich erscheinen ließ. Es war eine Schande – er hatte so viel Potential besessen, und auf diese Weise zusammenzubrechen, in aller Öffentlichkeit…
    »Kommen Sie, Galen«, sagte Michael, »Lassen Sie uns nach Hause gehen.«
    »Hagen«, kam die krächzende Antwort.
    »Wie bitte?«
    »Mein Name«, sagte Galen langsam, »ist Hagen.«
    »Von mir aus«, sagte Michael, während er sich umdrehte, um die Bühne zu verlassen. Er konnte sehen, wie die anderen Künstler ihn aus den Kulissen heraus neugierig beobachteten. Viele von ihnen wussten, wer Galen war, und was immer geschah, sie wollten sich nur ungern einmischen oder in diese Angelegenheit verwickelt werden – ob aus Respekt oder Furcht konnte Michael nicht sagen. »Komm schon, Hagen. Lass uns gehen.«
    Michael wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ihn eine seltsame Empfindung durchlief. Mein Gott, dachte er, konnte es das…? War das möglich? Doch er schüttelte den Gedanken ab – er sollte sich besser erst einmal um Galen kümmern, und dann über Umkehrungen und den relativen Wert von Geschichtsprofessoren nachdenken.
    »Galen?«, fragte Michael leise, als er über seine Schulter blickte und feststellte, dass der Musiker ihm nicht folgte. Das Gemurmel im Publikum wurde lauter, einige waren sogar aufgestanden und schimpften in Richtung Bühne.
    Zeit sich aus dem Staub zu machen, dachte Michael. »Galen, was…« Doch der Sänger schien ihn nicht zu hören. Stattdessen starrte er auf einen Punkt rechts über Michaels Kopf, und seine Lippen bewegten sich in einer lautlosen Beschwörung.
    Plötzlich verschwamm der Raum, als habe sich die Linse eines Projektors von selbst gelockert und gleich wieder korrigiert. Michael schüttelte die Empfindung ab, und als er sich umdrehte, um nachzusehen, was die Aufmerksamkeit seines Gefährten erregt hatte, verspürte er plötzlich einen seltsamen Druck in seiner Brust.
    Das Schwert, das Galen bei sich getragen hatte, war nicht nur Zierde gewesen – er hatte es aus der Scheide gezogen und tief in Michaels Rücken gestoßen.
    »Al-Alberich?«, fragte Michael und blickte neugierig auf die Spitze der schmalen Klinge, die etwa fünfzig Zentimeter aus seinem Brustbein ragte. »Alberich? W-was…?«
    »Ich bin nicht Alberich«, zischte Galen. »Ich bin Hagen. Und du bist tot.«
    Einen Augenblick lang herrschte Stille in dem großen Saal. Die meisten Zuschauer hatten begriffen, dass der Wechsel der Schauspieler weder geplant noch erwartet gewesen war. Nur einige Dutzend wussten, wie fatal die Oper verunstaltet worden war. Ein knappes Dutzend etwa hatte sogar richtig erkannt, dass dies den Abbruch der Festspiele bedeutete.
    Und eine einzige Frau in der zweiten Reihe durchschaute, was passiert war, und übermittelte ihren Gefühlsausbruch in Form eines langen, schrillen Schreis. Und dann brach in Bayreuth die Hölle los.
    Menschen drängten sich zu Hunderten schreiend an den Türen und versuchten, dem zu entkommen, was sie, wie ihnen langsam bewusst wurde, gerade mit angesehen hatten. Dutzende

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