Die ewige Bibliothek
über Phineas Gage und ging nach Hause.
Am nächsten Tag war Galen weder in seiner Wohnung, noch in seinem Büro anzutreffen, und auch am darauf folgenden Tag tauchte er nicht auf. Juda war nirgends zu finden, und Michael war sich sicher, dass er das mathematische Wunderkind nicht mehr wieder sehen werde, bis am Morgen des Sechsundzwanzigsten das Telefon an seinem Ohr explodierte.
»Hallo?«, sagte Michael und tastete nach dem Lichtschalter.
»Seid gegrüßt und wohl bekomm’s.«
Michaels Kopf wurde augenblicklich klar. »Hallo, Sie Arschloch. Wo zur Hölle sind Sie gewesen?«
»Ich habe mich auf die Umkehrung vorbereitet – was dachten Sie denn?«
Über der emotionalen Achterbahnfahrt der letzten Tage hatte Michael die Umkehrung vollkommen vergessen – irgendwie war sein Glaube daran verblasst, seit sein Leben den Bach hinunter gegangen war.
»Was wollen Sie, Juda?«
»Es geht um Galen. Er hat die Universität verlassen, und ich fürchte, er ist völlig am Boden zerstört.«
»Vielleicht hatte er einfach nur eine schlechte Woche«, sagte Michael sarkastisch. »Nur für den Fall, dass Sie noch nicht davon gehört haben.«
»Ich weiß.«
»Die Neuigkeiten über die Wagnerfestspiele hätten jeden mitgenommen, aber wenn man sein Interesse an der Sache bedenkt, hat er, glaube ich, ein Recht darauf, verdammt sauer zu sein.«
»Es ist mehr als das«, sagte Juda. »Können Sie in sein Büro kommen?«
»In der Universität?«, fragte Michael und warf einen Blick auf die Uhr. »Also gut. Ich werde – «
Im Hörer summte es bereits. Juda hatte aufgelegt.
Zehn Minuten später betrat Michael die Eingangshalle des Gebäudes, in dem sich das Büro des Rektors befand, und sah, dass er allein war. Wo zum Teufel steckte Juda?
»Ich bin hier drüben«, hörte er eine Stimme quer über den Hof rufen. »Mein Fehler – ich meinte sein altes Büro im Musikgebäude.«
Michael trabte hinüber und gemeinsam stiegen sie die Stufen hinauf. »Was geht hier vor, Juda? Was ist passiert?«
»Etwas Schlimmes.«
Der Mathematiker weigerte sich, Genaueres zu sagen, bevor sie das Büro am Ende des Korridors erreicht hatten, wo er die Tür zu dem ehemals ordentlichen Raum öffnete und ein Chaos enthüllte.
Das Klavier und der Schreibtisch waren Kleinholz, die Bücher und Regale ebenfalls. Von der Edda fehlte jede Spur.
Der einzige intakte Gegenstand im ganzen Zimmer war die Büste von Wagner, die in seiner Mitte auf dem Boden stand. Eine verwischte Nachricht, wieder und wieder und wieder geschrieben, wand sich von ihrem Sockel aus in immer größeren Kreisen um die Büste herum und breitete sich über jeden Quadratzentimeter des Raumes aus – Ich bin Hagen.
»Gütiger Gott«, sagte Michael.
»In der Tat«, bestätigte Juda. »Wie ich gesagt habe: wirklich schlimm.«
Michael ging in die Hocke, berührte das Graphit auf dem Fußboden mit den Fingerspitzen und schloss die Augen. Er dachte über seine Möglichkeiten nach und fasste dann mit einer Endgültigkeit, die ihn überraschte, einen Entschluss. Michael stand auf und ging zur Tür.
»Professor«, sagte Juda, »wohin gehen Sie?«
»Wo ich jedes Jahr um diese Zeit hingehe«, antwortete Michael mit einem müden Grinsen und verschwand durch die Tür. »Ich fahre nach Bayreuth.«
KAPITEL ELF
Die Wahrhaftigkeit
Wie kommt man nach Bayreuth?
Wenn man bei der Antwort auf diese Frage einem ähnlichen Gedankengang folgt, wie ihn die Frage »Wie kommt man in die Carnegie Hall?« auslöst, dann lautet die Antwort: »Üben, Junge, Üben.« Damit wird freilich angedeutet, dass jeder, der in die Carnegie Hall will, nach dem Ruhm und der Anerkennung strebt, die ein Auftritt dort mit sich bringt, statt nach einem Platz im Publikum. Der Witz daran ist natürlich, dass man ein Musiker von Weltklasse sein muss, um in der Carnegie Hall auftreten zu können, und der Durchschnittsmensch wahrscheinlich eher nach dem Weg fragen wird, als nach einem Karriere-Ratschlag. Jeder kann eine Eintrittskarte kaufen, um sich eine Aufführung anzusehen, doch nicht jeder kann auftreten.
In New York erzählen viele Leute diesen Witz – in Bayreuth allerdings kommt das niemals vor, und zwar deshalb, weil es in Bayreuth Jahre der Ausbildung und des Vorsprechens und des Knüpfens von Beziehungen und oft des reinen Glückes bedarf…
… nur um eine Eintrittskarte zu erwerben.
Aber aufzutreten – in Bayreuth aufzutreten war undenkbar, stand vollkommen außer Frage. Nur einige
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