Die Ewigen Jagdgruende der Frau Weinwurm

Millimeter für
Millimeter langsam zu den Knien hinab. Dabei musste sie die Hüften hin- und
herrollen wie ihre italienische Mamma, und sie wartete nur darauf, dass
Liliane sich erdreistete, in grelles Hohngelächter auszubrechen.
    Sie tat ihr den
Gefallen.
    »HARHARHAR!«  
    Böse, wie finsterstes
Postkutschenräuberlachen! Und noch einmal:
    »OHOHOHARHARHARHAR!!«
 
    Die Luft erbebte, die
Wände warfen ein hohles Echo zurück! Beide Hände in die spitzen Hüften
gestemmt, platzte Liliane heraus, hielt sich keuchend und nur mit Mühe auf der
Bank, während immer neue Salven ihres unverschämten Gelächters den Umkleideraum
erschütterten, und Ivonne sich scheinbar ungerührt aus der Hose schälte und
eine schwarze Gymnastikhose überzog. Vielleicht, dachte sie, stolperte diese
Frettchenratte demnächst einmal über ihre großen, viel zu langen Füße, während
sie auf dem Schwebebalken entlangschritt, vielleicht splitterten auch ihre
spitzen Knochen beim Hüftaufschwung am Stufenbarren? Vielleicht landete eine
grazil - endlich hast du’s gelernt, Ivonne ! - geschwungene Keule auf
ihrem Hinterkopf?
    Wer wusste das schon?
    Abrupt verstummte das
Gelächter, als Liliane Ivonnes giftigsten und gefährlichsten Todesblick
auffing.
    »Hey, entschuldige,
das war nicht böse gemeint, es... es sah nur so komisch aus... mmhh. Ich
dachte, du würdest mitlachen, vielleicht?«
    »Vielleicht? Ach?
Über was sollte ich denn lachen?«
    »Naja, dieses...«
Liliane stand auf und machte eine Hula-Bewegung.
    »Lach ich vielleicht
über deine spitzen Skelett-Rippen?«
    Ungnädig stieß Ivonne
Liliane ihre Faust unter die Brust, doch anstatt zurückzutaumeln und zwischen
die nassen Mäntel, Jacken und Pullover gegen die weißen Kacheln zu fallen,
blieb sie fest auf beiden Füßen stehen und: schlug zurück, kräftig, hart, ohne
Zögern! Wham! klatschte eine knochige Faust in Ivonnes Gesicht, und wham! raste ein Fuß in zierlichen Gymnastikschläppchen – und ganz von selbst! –
auf Lilianes Schenkel zu, traf, und nun – endlich! – ging sie zu Boden und röchelte
theatralisch!
    Liliane lag auf der
Seite und rieb sich den Schenkel. Ivonne stützte sich gegen die Wand und atmete
schwer, zog ihren Gymnastikschuh, der ihr vom Fuß gerutscht war, wieder über
die Ferse.
    »Wir wären ein
wunderbares Laufteam, bestimmt!«
    Liliane rappelte sich
keuchend auf und strahlte Ivonne an.
    »Ich kriege was auf
die Rippen und du verlierst was von den Hüften - klingt das nicht
phantastisch?«
    Ivonne rollte mit den
Augen, konnte es nicht fassen. Was war das nur für ein merkwürdiger dürrer
Kobold?
    Ohne ein Wort drehte
sie sich um und eilte in die Turnhalle, in der die Mädchen bereits einen Kreis
gebildet hatten und Aufwärmübungen machten. Hastig quetschte sie sich zwischen
Carmen - »Ihhhhh, fass mich nicht an, sonst werd ich ganz fettig!« - und
ein winziges Mädchen aus der Parallelklasse, das sich nicht wehren konnte und
zur Seite taumelte.
    Wieso war Liliane so
fixiert, mit ihr ein Lauftraining zu beginnen? Ausgerechnet mit ihr, und dann
auch noch die Vorstellung: Marathon! Was hatte sie getan, um diese nimmermüde
Schmeißfliege, die mit ihrem Dickkopf immer wieder gegen Ivonnes hartnäckigen
Widerstand anflog, so anzulocken?
    Unendlich
viele Zettelchen hatte sie ihr heute in den ersten vier Unterrichtsstunden
zugeschoben. Sie alle forderten Ivonne in sehr unterschiedlichen Formen dazu
auf, mit Liliane zusammen das Training zu beginnen. Eine Zeichnung, die ein
Strichmännchen und eine Kugel auf zwei rotierenden Beinchen zeigte, die,
Strich- in Kugelhand, gemeinsam eine Steigung erklommen, hatte Ivonne
demonstrativ zerrissen und die Schnipsel auf den Boden zwischen ihre Stühle
rieseln lassen. Dr. Frouderakis kräuselte ungehalten seine geschürzten, feucht
glänzenden Lippen und lispelte Ivonne mahnend zu, sich ausnahmsweise einmal auf
Napoleons Rückzug aus Moskau zu konzentrieren – wichtige Zeit, wichtige
strategische Entscheidungen und wichtige Schlachten in Europa, junge Dame! - und
Ivonne versuchte sich zu konzentrieren und verstand nebulös, dass diese
Soldaten und Kriegsschauplätze, all die Depeschen und davoneilenden Kuriere,
etwas mit dem Weinwurmschen Konzept von Hochkultur (vielleicht? womöglich?) zu
tun hatten. Aber sie ahnte, dass sie niemals wichtig finden würde oder behalten
könnte, so sehr sie sich auch anstrengte, was über die speichelfeuchten Lippen
von Dr. Frouderakis oder die nervös zuckenden Lippen von